Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

Martin Körner (1757-1822) - Ein Schulmeister in schwerer Zeit

Von Erich Hinkel

Als Martin Körner aus dem kurmainzischen Bischofsheim an der Tauber 1781 im Alter von 24 Jahren die Schulstelle in Gau-Algesheim übernahm, hatte er sich seine Arbeit dort wohl etwas einfacher und leichter vorgestellt. Gegen ein geringes Gehalt von rund 134 fl. (Gulden) jährlich mußte er 200 Kinder unterrichten. Daneben hatte er den Glöckner- und Organisten- sowie den Sakristandienst zu versehen, die Altäre zu bedienen und für den Chorgesang zu sorgen. Damit konnte er sich sein karges Einkommen aufbessern. Zwar ordnete 1772 der Kurfürst an, daß jeder Lehrer mindestens ein Jahresgehalt von 300 fl. zu erhalten habe, um von Nahrungssorgen enthoben zu sein; diese Forderung wurde jedoch in Gau-Algesheim nicht erfüllt. Körner klagte immer wieder wegen seines geringen Gehaltes und der überfüllten Klassen. Er forderte die Anstellung eines Präceptors, der ihm aus Geldmangel nur für das Winterhalbjahr bewilligt wurde. Deshalb lag er bis 1795 mit der Gemeinde im gerichtlichen Streit. Er konnte nicht einsehen, daß er die Arbeit allein leisten sollte.

Eine besondere Last empfand Körner in der Einstudierung lateinischer Choräle. So hatte er wöchentlich während der üblichen Schulstunden sechs Stunden Choralunterricht. Im Vergleich dazu wurden lediglich zwei Rechenstunden abgehalten. Neben diesen Schulstunden mußte Körner abends mit den Erwachsenen den Kirchengesang einstudieren und üben. Das Chorsingen und Musizieren hatte in Gau-Algesheim seit Jahrhunderten einen hohen Stellenwert und Körner genoß als Musiklehrer ein hohes Ansehen.

Hier liegen zum Teil auch die Wurzeln des Gesangbuchstreites, der sich besonders in Gau-Algesheim austobte. 1787 führte Kurfürst von Erthal ein neues Gesangbuch ein. Die althergebrachten und besonders bei älteren und konservativen Leuten beliebten lateinischen Gesänge wurden durch deutschsprachige Lieder ersetzt. Es wurden praktisch die Kirchenlieder eingeführt, die heute noch gesungen werden. Während Pfarrer Wank und der der Aufklärung zugeneigte Kaplan Weidner die Einführung aktiv unterstützten, versuchte der Amtskeller Hellmandel mit seinen Anhängern die Sache zu hintertreiben. So teilte sich die Gemeinde in zwei unversöhnliche Lager, die sich erbittert bekämpften. Pfarrer Wank berichtete dem bischöflichen Ordinariat, „daß es einfältige Leute gibt, die es lieber bei den alten belassen haben wollen, weil sie den Wert der deutschen Sprache im Gottesdienst nicht einsehen.“

Die Sache ging so weit, daß die Sängerinnen „Chorpumpeln“ genannt und an die Kirchentür die Namen der „Chorhuren“ angeschlagen wurden. Jeder, der die neuen Lieder mitsang, bekam seinen Spitznamen. Anderen wurde von der Empore in der Kirche auf das neue Gesangbuch gespuckt. Mehrere schwere Schlägereien zwischen den Männern zeigte die Zerstrittenheit. Schulrektor Körner stand auf der Seite des Pfarrers. Er unterstützte die Einführung des als lutherisch diffamierten Gesangbuches und übte mit viel Elan die neuen Lieder ein. Dabei machte er sich viele Feinde, vor allem bei den Eltern seiner Schulkinder. Oft mußte er den Kirchengesang im Gottesdienst alleine mit den Kindern bestreiten, weil sich die Erwachsenen weigerten, die neuen Lieder zu singen.

Der Lehrer hatte sich mit dem Amtskeller so zerstritten, daß dieser noch 1794 im Rahmen der Klubistenverfolgung mit allen Mitteln versuchte, diesen „schlimmen“ Schulmeister loszuwerden. Man kann sagen, daß es in Gau-Algesheim eine starke traditionalitisch-konservative Gruppe gab, die großen Einfluß hatte. Dieses Gedankengut pflanzte sich trotz Französischer Revolution und napoleonischer Herrschaft fort. Brilmayer schreibt noch 1883 in seiner Geschichte der Stadt Gau-Algesheim: „Noch zweier Ereignisse müssen wir hier gedenken, die ebenfalls so recht den katholischen Sinn der Bewohner Algesheims zeigen, und die beide zu ihrer Zeit viel Aufsehen erregten, nämlich die Einführung eines neuen Gesangbuches im Jahre 1787 und die Verehrung des Muttergottes-Gnadenbildes.“

Die Gesangbuchgegner richteten sich gegen Aufklärung und Fortschritt. Der Erzbischof wollte jedoch nur das praktische Christentum populärer machen. Altes und neues Gedankengut prallten hier heftig aufeinander. Schulleiter Körner stand auf der Seite des Fortschritts, der Vernunft und der Aufklärung. In dieser Zeit stellte Pfarrer Wank in seinem Pfarrbericht beste Zeugnisse für Körner aus. „Er seye eifrig, seinem Amt vollkommen nachzukommen, weilen die Schuljugend zu zahlreich und sich über 200 Kinder erstrecken, er aber allein dasselbe versehen müsse, worinnen er auch seine Schuldigkeit thue. Er seye in allen Stunden ein ordentlicher, anbey in der Schule gedultiger und gelassener Mann.“

Ein besonders gutes Verhältnis hatte Körner zu Kaplan Weidner. Beide bezogen auswärtige Zeitschriften und Zeitungen und diskutierten oft über die neuen Ideen und über die Entwicklung der Lage in Frankreich. Weidner war unter anderem persönlicher Freund des späteren Sekretärs des Mainzer Jakobinerklubs Steppens. Während Weidner in der französischen Besatzungszeit floh, schloß sich Körner nach der Eroberung des linken Rheinufers durch Custine im Oktober 1792 den Gau-Algesheimer Klubisten an. Nun konnte er seiner wahren Gesinnung freien Lauf lassen. So hielt er in der Gaststätte „Zum Stern“ mehrere Freiheitsreden, übte am 22. Oktober mit den Klubisten die Marseillaise ein und erklärte die Entstehung des Liedes. Andererseits hielt er sich aus dem örtlichen Tagesgeschehen heraus und wirkte agitatorisch mehr in seinem Metier. Man sagte von ihm, daß es nicht seine Art sei, mit dem halbgebildeten Bauern zu diskutieren. Er lehrte den Kindern die Grundsätze der Revolution und verpackte diese geschickt in Bibelsprüche. So brachte er z. B. den Kindern die Flucht des Kurfürsten bei, indem er das Gleichnis vom „Guten Hirten“, der nicht seine Schafe verläßt, heranzog.

Als die französischen Revolutionstruppen und die Klubistenanhänger das Land mit Flugschriften und Bulletins überschwemmten, ließ Körner diese durch die Schulkinder verteilen und daran das Lesen üben. Eigenartigerweise weigerte sich Körner bei der Urwahl zum Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent am 7. März 1793 als Schriftführer zu fungieren, weil er kein Gemeindeangehöriger sei. Er wurde daraufhin vom Pedellen zwangsweise vorgeführt. Den Eid auf die Verfassung französischer Konstitution leistete er auf einem Stuhl stehend, was nicht gefordert war. Bei der Wahl soll er Stimmzettel für Schreibunkundige bewußt falsch ausgestellt haben, um Heinrich Kaiser, einen radikalen Klubisten, in den Konvent zu bringen. Dieser Vorwurf konnte ihm aber später nicht nachgewiesen werden.

Andererseits muß Körner bei Pfarrer Leyden ein hohes Vertrauen genossen haben. Kurz vor seiner Flucht in den Rheingau am 25. Februar 1793 übergab der Pfarrer wertvolles Kultgerät zur Aufbewahrung und beauftragte Körner, dieses Gerät treu zu verwahren und bis zu seiner Rückkehr in der Kirche Betstunden abzuhalten. Ein Geldversteck soll er ihm ebenfalls anvertraut haben. Dies ist sicher eine Besonderheit, denn Klubisten waren als gottlos verschrieen und wenig vertrauenswürdig in den Augen der Kirche. Körner führte diese nicht leichte Aufgabe zu aller Zufriedenheit aus. Anläßlich seines späteren Prozesses attestierte Pfarrer Leyden dem Gericht, „daß Körner ganz alleine die 200 Schulkinder, Betstunden, Kirchenkostbarkeiten und verborgene Gelder anvertraut waren, an all diesem hat er treu gehandelt, nichts verdorben, nichts entzogen, das ihm leicht gewesen sein würde, sich Reichtum zu erwerben, zumalen er ein armer Mann ist.“

Nach Einnahme von Gau-Algesheim durch die Preußen am Karfreitag 1793 kam auch Kaplan Weidner zurück. Er überprüfte sofort die Kinder, die an Ostern die Erste Hl. Kommunion empfangen sollten. Er stellt fest, daß die Kommunionkinder gut vorbereitet waren, mit Ausnahme von „einigen von Natur aus Dummen oder aus Elternvernachlässigung Unfähigen“.

Obwohl die Preußen den Ort scharf bewachten und jede Freiheitsregung streng unterdrückten, leistete sich Körner anläßlich des Hochamtes am Ostersonntag ein Husarenstück. Während der Aussetzung des Allerheiligsten schlug Körner die Marseillaise auf der Orgel an. Trotz heftiger Proteste wurde er nicht in Arrest genommen. Bei seinen späteren Verhören leugnete er jeden Vorsatz und gab an, daß er nicht gewußt habe, daß „die Franzosen einen bösen Text unter diesen Noten singen. Das Lied sei ihm geradeso eingefallen und weil er es am Abend vorher auf seinem Klavier gespielt habe. Er schlage immer auf der Orgel, was ihm gerade einfalle und habe es nicht zum Gefallen der Patrioten gespielt.“

Als man die Gau-Algesheimer Klubisten am Dienstag nach Ostern verhaftete, verschonte man Körner. Er wurde erst im Juni in Arrest genommen und nach Rüdesheim gebracht. Zuvor muß der Amtskeller Hellmandel ihm beim Kanzler Albini denunziert haben. Albini stellte am 15. Juni 1793 von Höchst aus fest: „Scheint dieser schlechte Schulmeister gar wohl in distincto zum Arreste qualifiziert zu sein und daß dieser Mensch zu einem Schuldienst ganz unfähig.“

Während seines Arrestes stellten ihm die Gau-Algesheimer beste Zeugnisse aus. Das Gau-Algesheimer Gericht schrieb: „daß Körner ein ehrlicher Mann sei und sein Schulwesen wohl verstehe“ und Pfarrer Leyden schrieb, „daß Körner ungeachtet seines Schwures keinen französischen Grundsätzen für Freiheit und Gleichheit zugetan sei, vielweniger, daß er selber dergleichen anstößiger Grundsätze der Jugend in der Schule eingeflößt habe.“

Da alle Attestaten „wahrheitsgemäß“ sich für Körner aussprachen, steht bei Kaplan Weidner das Wort „pflichtgemäß“. Ein feiner Unterschied. Der Amtskeller stellte zwar Körner kein schlechtes Zeugnis aus, versuchte aber mit allen Mitteln, Körner aus der Gau-Algesheimer Schulstelle herauszukomplimentieren. Er meinte, „daß Körner durch seine Suspension für Künftige in seinen Handlungen behutsamer und vorsichtiger geworden sei - seinen Fehltritt zu bereuen scheine; mithin Körner, um aus der Verbindung mit seinem zu Algesheim habenden Anhange zu kommen, mit einem anderen Schulmeister zu permutieren sein möge.“

Hellmandel spielte während der Zeit der Mainzer Republik eine zwielichtige Rolle und tat sich nun bei Klubistenverfolgung als besonders scharfer Gegner der Revolution hervor. Er erpreßte Geständnisse und ließ sogar Prügel an die Klubisten austeilen. Der Untersuchungsrichter Engelhardt, der eine äußerst humane, man könnte fast sagen rechtsstaatliche Untersuchung, durchführte, durchschaute den Amtskeller und stellte fest: „Die Revolutionsakten haben schon vielfältig gezeigt, daß Amtskeller aus den unbedeutendsten Denunziationen Veranlassung genommen hat, Untertanen zu arretieren, weitläufig zu inquirieren und dadurch so viele Kösten zu machen, daß nachher mancher Mann darüber zu Grunde gehen wird. Es wäre wirklich besser, wenn dem Wink, des ohnehin durch seine notorische Sonderheit gehaßte Amtskeller, benutzt und nach Algesheim ein anderer tüchtiger Beamter versetzt werden sollte...“

Bezüglich Körner stellte der Richter fest: „Ich sehe nichts daraus, als daß der Amtskeller die Restitution des Schulrectors K. nicht vertragen kann, die er jedoch, da sie rechtlich anerkannt ist, ertragen muß.“ Engelhardt sprach Körner von allen Anklagepunkten frei und lehnt eine Versetzung des Lehrers ab, weil „ein anderer mit guter Station nicht tauschen würde mit ihm, die Gemeinde mit seiner Lehre zufrieden und ein guter Lehrer den Algesheimern notwendig sei.“ Trotz dieses Gutachtens lehnte Hofkanzler Albini, ein Klubistenhasser, die Freilassung ab. Erst im Herbst 1794 wurde Körner aus der Haft entlassen und in seine Schulstelle wieder eingewiesen.

Körner verrichtete in der Folgezeit seinen Schuldienst zur vollsten Zufriedenheit unter kurfürstlicher, napoleonischer und großherzoglicher Verwaltung. Von 1811 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1821 arbeitete er eng mit dem Bürgermeister, ehemaligen Professor der Universität Mainz und ehemaligem französischen General Rudolf Eickemeyer zusammen. Eickemeyer war, wie Körner, den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution zugetan. Beide, der Bürgermeister und der Schulrektor, stellten das Gau-Algesheimer Schulwesen auf eine neue Stufe.

Das Schulwesen erreichte einen Stand, der sich im Großherzogtum Hessen sehen lassen konnte. Dies mußte selbst Pfarrer Göbel, der große Gegner der beiden, eingestehen. Er berichtete an das bischöfliche Vikariat, daß sich Körner unter Eickemeyer zu einem ausgezeichneten Schulmeister entwickelt habe und dieser ein rechtschaffener Mann sei.

Körner hat in schwieriger Zeit die Schulkinder lesen und schreiben gelehrt, ihnen die Grundsätze der Religion, aber auch die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beigebracht. Martin Körner starb nach über vier Jahrzehnten Dienst als Lehrer der Gau-Algesheimer Schule im Jahre 1822.

Erstveröffentlichung: Hinkel, Erich, Martin Körner (1757-1822). Ein Schulmeister in schwerer Zeit, Heimatjahrbuch Landkreis Mainz-Bingen 1989, 149-152