Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

  • Aspekte der Stadtgeschichte

Gau-Algesheimer Stadtgeschichte

Wappenstein mit Mainzer Doppelrad an der Ostseite des Rathauses

„Am wunderschönen Rhein, da liegt ein Städtelein...“, heißt es im Refrain des Liedes, dessen Text und Melodie Erich Ney für die Fastnachtskampagne 1935 verfaßt hat und das als „Gau-Algesheimer Lied“ bis heute gesungen wird.

Geographisch gesehen liegt Gau-Algesheim zwar einige Kilometer vom Rhein entfernt am Rande der Ingelheimer Rheinebene auf den Terrassen zum Rheinhessischen Westplateau, in dessen vielgestaltige Bodenstruktur der „Geo-Ökologische Lehrpfad“ am Hang des Westerbergs einen Einblick ermöglicht.

Die Mentalität seiner Bewohner aber ist die der Menschen vom großen Strom im Westen unseres Landes. Seit den frühesten Zeiten der Besiedlung haben Kelten, Römer und Franken in dieser Gegend ein gesundes Klima und immer gute Lebensbedingungen vorgefunden. In der Römerzeit noch Grenzland hat sich die Region bereits im Mittelalter zum einem Kernland des „Heiligen Römischen Reiches“ entwickelt.

Vor seiner ersten urkundlichen Erwähnung im Codex Laureshamensis unter dem Jahre 766 mag es das fränkisch-merowingische Alagastesheim schon über zwei Jahrhunderte gegeben haben. Die Zeugnisse über Alagastesheim und Bergen (Laurenziberg) in den Güterlisten der Klöster Lorsch und Fulda seit 766/67 erlauben Rückschlüsse auf Ackerbau, Viehzucht, Weinbau und Obstbau sowie den Wohlstand einzelner Bewohner. Sichtbar in die Geschichte tritt Gau-Algesheim mit den anderen Orten des Binger Landes am 14. Juni 983, als Kaiser Otto II. in Verona seinem Mainzer Erzkanzler Willigis die Stadt Bingen und die Landschaft schenkt, die „sich diesseits des Rheines von der Brücke über die Selzbach erstreckt bis nach Heimbach, jenseits des Rheines aber von der Stelle, wo das Elzbächlein in denselben fließt, bis zu dem Dörflein Caub.“ Bis 1797 steht Gau-Algesheim unter der Herrschaft der Mainzer Erzbischöfe. Daß es sich „unter dem Krummstab gut leben“ läßt, hat nicht für alle Zeiten gegolten: mal wird Gau-Algesheim anderen Herren als Pfand gegeben, so dem badischen Markgrafen (1461-1484), mal überziehen die eigenen und fremden Heere die Stadt mit den Lasten und Verwüstungen des Krieges, z.B. 1248 während der Kämpfe zwischen den Truppen Kaiser Friedrichs II. und König Wilhelms von Holland, 1553 im Krieg der protestantischen Fürstenopposition gegen Kaiser Karl V., 1631, als die Truppen des schwedischen Königs Gustav Adolf die Stadt zu einem großen Teil niederbrennen, oder 1690, 1733 und 1792, als französische Soldaten Gau-Algesheim anzünden oder in Besitz nehmen.

Auch die beiden Stadtrechtsverleihungen, 1332 auf Bitten des Mainzer Kurfürsten Balduin durch Kaiser Ludwig den Bayern sowie 1355 durch König Karl IV. zu Gunsten des Mainzer Erzbischofes Gerlach, sind primär politisch-militärisch motiviert und sollen erst in zweiter Linie die Sicherheit und den Wohlstand der Stadtbewohner befördern. Dennoch lassen gerade die Entstehung eines Wochenmarktes und eines Weinmarktes sowie die Existenz einer stattlichen Zahl von Handwerkern und Kaufleuten erkennen, daß städtisches Leben Angebot und Nachfrage für regelmäßige Märkte schafft. Zugleich weisen die zahlreichen Gültverschreibungen und die Erwähnung einer Judensteuer auf einen recht großen Bargeldbedarf und Geschäftsverkehr hin. Schließlich steht über 400 Jahre, von der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts bis zum Ende des Alten Reiches, das Amt Algesheim unter dem Regiment von Amtmännern, Landschreibern, Amtskellern und Schultheißen des Mainzer Erzbischofs.

Den Gestaltungswillen der landesherrlichen Macht, schon in der Gemeindeordnung vom 15. Juli 1417 herausgestellt, bekommt Gau-Algesheim schmerzlich zu spüren, als Kurfürst Albrecht in der Landesordnung vom 3. Januar 1527 den Bestrebungen nach städtischer Selbstverwaltung wegen der Teilnahme des Ortes am Rheingauer Aufstand vom 1525 ein Ende bereitet und „unser stadt Algeßheym von unserm landt dem Ringgaw“ loslöst und auf Dauer abgetrennt läßt. Daneben vermitteln Stadtansicht, Gemarkungsplan und Dorfbeschreibung aus dem Atlas des Kartographen Gottfried Mascop von 1577, die Dorfbeschreibungen von 1590 und 1668 sowie die Polizeiordnung von 1595 Eindrücke davon, in welchem Maße und in welchen Grenzen der administrativen Strukturen sich das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben sowie Selbstbewußtsein und Eigensinn der Bewohner des kleinen Ackerbürgerstädtchens entwickeln.

Von 1797-1815 gehört Gau-Algesheim mit dem gesamten linksrheinischen Gebiet zur Französischen Republik bzw. zum napoleonischen Kaiserreich. In der Person des Wissenschaftlers, Ingenieurs und Offiziers Rudolf Eickemeyer, der 1811-13 und 1814-15 als Maire und von 1815-22 als Bürgermeister an der Spitze der Stadt steht, gewinnt Gau-Algesheim eine personelle Kontinuität von der französischen zur hessischen Zeit und einen Mann voller Ideen und Tatkraft, so daß die schädlichen Folgen von Krieg, Annexion und Besatzung rasch beseitigt werden. Rudolf Eickemeyer gibt durch die Neuordnung des Brandschutzes, die Sanierung der Finanzen, die bauliche Erweiterung der Stadt sowie durch die Förderung des Schulwesens und der Landwirtschaft dem Gemeinwesen eine moderne Gestalt, die es von vergleichbaren Orten der näheren und weiteren Umgebung abhebt.

Die Spuren, die der Katholische Pfarrer Peter Koser von 1869-1890 in Gau-Algesheim hinterlassen hat, sind bis in die Gegenwart wahrzunehmen: eine Präparanden-Anstalt, von den Einheimischen „Lateinschul’“ oder - gut rheinhessisch gestrunzt - „Aljesemer Hochschul’“ genannt, und eine Kinderbewahranstalt, ein Credit- und Sparverein auf genossenschaftlicher Basis sowie ein Bauern- und Konsumverein, und nicht zuletzt der Neubau der Katholischen Pfarrkirche und die Gründung einer Kirchenmusik im Jahre 1888 belegen das religiöse und gesellschaftspolitische Engagement von Peter Koser in einer Zeit politischer und weltanschaulicher Kämpfe. Das Leben in den zahlreichen Vereinen und die Geselligkeit sind in diesem historischen Fundament verankert: in den traditionellen Festen, der Laurenziwallfahrt und der Kerb im August, dem Fest des Jungen Weines am zweiten Wochenende im Oktober oder dem Weihnachtsmarkt am ersten Adventssonntag.

Ursprung dieser Feste ist christliches Brauchtum, das trotz fortschreitender Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens noch immer Bestand hat. Besonderer Höhepunkt der öffentlichen Gottesdienstes ist die Prozession auf den Laurenziberg an dem Augustsonntag, der dem Laurenzitag (10. August) am nächsten liegt. Ihr Ursprung ist unbekannt; doch schon in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts ist die damit verbundene Pferdesegung nachgewiesen. Dazu kamen neben den kurfürstlichen Pferden aus Mainz Gespanne aus der näheren Umgebung, aber auch vom Hunsrück und von der Nahe. Dies läßt vermuten, daß eine Viehseuche in den Jahren nach dem Dreißigjährigen Krieg Anlaß dieser Wallfahrt war. Heute ist die Zahl der Pilger, welche die blumen- und traubengeschmückte Figur des hl. Laurentius auf den Berg begleiten, stark zurückgegangen. Die meisten kommen mit motorisierten Pferdestärken zur Wallfahrt. Doch ist die Zahl der zur Segnung gebrachten Pferde aus der weiteren Umgebung im Wachsen begriffen.

Neben dieser Prozession bestehen weiterhin unter großer Beteiligung die „Gau-Algesheimer Wallfahrt“ auf den Rochusberg am Dienstag nach dem Rochusfest, die Flurprozession am Fest Christi Himmelfahrt zum neuen Feldkreuz hoch über der westlichen Umgehungsstraße und die Sakramentsprozession durch die Straßen der Stadt am Fronleichnamsfest. Gemeinsam gestalten die katholische Pfarrei und die Stadt alljährlich den Martinszug für die Kinder.

Das Fest des jungen Weines am 2. Oktobersonntag hat zwei Wurzeln: der mittelalterliche Gau-Algesheimer Weinmarkt und das kirchliche Erntedankfest. Als Attraktion für Besucher auch aus der weiteren Umgebung fließt der junge Wein aus dem umgestalteten Marktbrunnen: Der alte Wein wird in den Weinhöfen der Stadt, vornehmlich in der Weingasse, ausgeschenkt. Aufzug der Jahrgänge, Alagast-Markt und der „Kinner-Klumbezug“ bereichern das Programm.

Am Wochenende des 1. Advents lädt der „etwas andere Weihnachtsmarkt“, initiiert durch die Jugendarbeit der katholischen Pfarrei und als Ausdruck der in Gau-Algesheim selbstverständlich gelebten Ökumene mitgetragen von der evangelischen Pfarrei, auf den Marktplatz ein. Seit dem 20. Weihnachtsmarkt liegt die Organisation in Händen des eingetragenen Vereins „Gau-Algesheimer Weihnachtsmarkt zur Hilfe Bedürftiger“. Der gesamte Erlös wird solchen Bedürftigen in aller Welt zur Verfügung gestellt, zu denen persönliche Beziehungen bestehen.

Besondere Akzente setzen seit alters her die Vereinsjubiläen und neuerdings die sommerlichen Angebote in den Weinhöfen im Rahmen von KiS („Kulturelles im Städtchen“). Geselligen Leben in der Stadt entfalten weiterhin die Jahrgangsvereinigungen und Nachbarschaften. Die „alten“ Vereine, wie die Chorgemeinschaft Cäcilia-Sängerlust 1848/1922 und der Männergesangverein 1881, der Turnverein Eintracht 1880, der Radsportverein 1898 und die Sportvereinigung 1910 oder der Carnevalverein 1912, haben die Zeichen der Zeit erkannt und ihr Programm erweitert. Insbesondere die traditionell dem Männergesang verpflichteten Chöre öffneten sich für Frauen und die Jüngeren. Den Namen Gau-Algesheims haben die „Gulaschsänger“ des Carnevalvereins und die der Kath. Kirchenmusik entstammende „Contrast-Band“ bei deutschen Nord-Amerikanern bekannt gemacht. Vereinsgründungen der letzten Jahrzehnte greifen berufsständische Interessen und soziale Nöte auf oder stellen sich auf ein gewandeltes Freizeitverhalten ein.

Die Reihe der Partnerschaften wurde 1964 mit Saulieu/Côte d’Or begonnen. Bürgermeister Wilhelm Bischel konnte mit Dr. Marcel Roclore den Bürgermeister von Saulieu und Präsidenten des Conseil Général de la Côte d’Or in Gau-Algesheim begrüßen. Wenige Wochen später erwiderte eine Gruppe der Kath. Jugend den Besuch mit einem Zeltlager in Burgund. Auch die Verbindungen zu Caprino Veronese, Redford in Michigan oder zu Neudietendorf und Stotternheim in Thüringen begannen stets als Kontakte Einzelner oder von Gruppen, ehe die offiziellen Verbindungen geknüpft wurden. Sie leben bis heute von dem persönlichen Engagement vieler Bürger und Begegnungen auf kommunalpolitischer Ebene. Die „Gesellschaft für internationale Verständigung“ koordiniert und unterstützt die Städtepartnerschaften seit 1969.

Die beiden Pfarreien, die katholische St. Cosmas und Damian sowie die evangelische Gustav-Adolf-Gemeinde, sind lebendige Gemeinden nicht nur durch überdurchschnittlich guten Kirchenbesuch. Beide leben durch eine Vielzahl von aktiven Gruppierungen und Initiativen, die mehr und mehr ökumenischen Charakter gewinnen. Christian-Erbach-Chor, Cosmas-Brothers und Katholische Kirchenmusik gestalten nicht nur Gottesdienste in beiden Kirchen mit, sie treten auch im weltlichen Bereich auf, und dies weit über die Heimatgemeinde hinaus. Um die Mitte des Jahres 1998 hat Gau-Algesheim im Landkreis Mainz-Bingen 6.539 Einwohner. Im Rathaus am Marktplatz hat die Bürgermeisterei, im ehemaligen Hospital die Verbandsgemeindeverwaltung ihren Sitz.

Landwirtschaft, Obst- und Weinbau sind für immer weniger Bewohner der Stadt Existenzgrundlage; die heimischen Produkte freilich finden sich wieder häufiger auf dem Speiseplan vieler Bürger. Die Struktur von Industrie, Handwerk, Handel und Dienstleistungen hat sich, der Logik gesamtgesellschaftlicher Tendenzen folgend, verändert. Der Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie ist nicht vollständig durch Stellen in Dienstleistungsunternehmen und im Handwerk kompensiert worden.

Verkehrsgünstig an den Bahnstrecken in Richtung Frankfurt-Koblenz und Mainz-Saarbrücken und der Autobahn A 60 gelegen und mit attraktiven Wohngebieten sowie nahen und vielfältigen Einkaufsmöglichkeiten ausgestattet, ist die Stadt zu einem bevorzugten Wohnort mit einem differenzierten Schulangebot (Schloß-Ardeck-Grundschule und Christian-Erbach-Hauptschule, ab 1999/2000 „Regionale Schule“, dazu eine Integrierte Gesamtschule und drei Gymnasien in Ingelheim und Bingen) geworden.

Die Wahrzeichen der Stadt sind noch immer das Ensemble von Katholischer Pfarrkirche, Rathaus, Bürgerhäusern und Marktplatz, der Graulturm und die Evangelischer Kirche, auch wenn im Osten das Wohngebiet „Am Westerberg“, von Norden das Gewerbegebiet und von Westen das neue Albertus-Stift die aus der Ferne sichtbare Silhouette verändert haben.

Text von Karl-Heinz Helm und Norbert Diehl, Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, 1999, S. 13-16.