Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

Zum Kulturkampf in Rheinhessen

Von Christofer Herrmann (1983) - Der am 15. September 1869 von der Druckerei Karl Reidel angekündigte und erstmals am 1. Oktober 1869 erschienene „Rheinische Volksbote“ verstand sich entschieden als ein konservativ-katholisches Meinungs- und Gesinnungsblatt. Die Zeitung, die die Hauptquelle dieser Arbeit darstellt, wurde von dem Gau-Algesheimer Pfarrer Peter Koser gegründet, der durch zahlreiche Initiativen und Gründungen das Bild dieser katholischen Gemeinde geprägt hat wie kein anderer. Insbesondere in den Jahren des „Kulturkampfes“, vertrat der „Rheinische Volksbote“ den „katholischen“ Standpunkt, der sich deutlich von „national-liberalen“ und „fortschrittlichen“ Positionen abgrenzte.

Pfarrer Koser verfaßte alle Leitartikel und Kommentare des „Rheinischen Volksboten“, der sich am Ende des Jahres 1871 selbst so darstellte: „Der 'Rheinische Volksbote’ wird vom 1. Januar an das Organ der Katholiken von ganz Rheinhessen sein .... In kirchlicher Beziehung ist das Blatt entschieden katholisch; es vertritt in dem kirchlich-politischen Kampf der Gegenwart das Recht der Katholiken ...... In politischer Beziehung erkennt der 'Volksbote' die Einigung Deutschlands vollständig und aufrichtig an. Diese Einigung ist ihm aber nicht Einerleiheit .... Er ist also gegen die vollständige Centralisation, die der deutschen Geschichte und dem deutschen Charakter zuwider sind .... In der Form ist der 'Volksbote' gemäßigt. Der Anstand und die gute Sitte, die leider von der heutigen Presse vielfach mißachtet werden, sind seine Leitsterne ...“ (9. Dezember 1871) Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Liberalismus. Als Theorie der Vernunft und der individuellen Freiheit bekämpfte der Liberalismus die Religion und die Macht des Klerus. Aus diesem Grunde waren die „Fortschrittlichen“ bemüht, die Macht- und Kompetenzfülle, die die katholische Kirche im Jahre der deutschen Einigung 1871 noch besaß, zu beseitigen. Schon im Februar 1871, also noch während es deutsch-französischen Krieges, versuchen sie in Preußen kirchenfeindliche Schulgesetze durchzubringen Dieser Versuch scheiterte aber am Zusammenwirken der kirchlich gesinnten Katholiken und konservativen Protestanten.

Ein Erfolg des Liberalismus schien im „Bismarckschen Reich“ nur möglich mit der Unterstützung des Reichskanzlers. Diese Hoffnung erfüllte sich anfangs jedoch nicht. Bismarck bot dem weltlich entmachteten Papst Pius IX. sogar Asyl in Deutschland an. Eine Meinungsänderung des Reichskanzlers führte der Klerus selbst herbei. Nach dem 1. Vatikanischen Konzil 1869/70 entstand der Altkatholizismus, der das Unfehlbarkeitsdogma ablehnte. Kopf der Protestler war der Münchener Theologieprofessor Döllinger, der wie alle Anhänger der altkatholischen Bewegung exkommuniziert wurde.

Die Kirche forderte vom Staat vergeblich, alle altkatholischen Professoren, Lehrer und Pfarrer aus ihren Ämtern zu entfernen. Döllinger wurde sogar Rektor der Münchener Universität. Die Forderungen der Kirche wertete Bismarck als Versuch, in den Hoheitsbereich des Staates einzugreifen. Der zweite Grund, der ihn bewog, gegen die katholische Kirche vorzugehen, war die Unterstützung nationaler Minderheiten (Polen, Elsässer) durch die Geistlichkeit und das katholische Zentrum.

Der Kulturkampf, ein von Rudolf Virchow 1872 geprägter Begriff, der als „Kampf für die Kultur“ verstanden werden sollte, begann mit der Aufhebung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium (1871). Im gleichen Jahr wurde den Geistlichen durch den „Kanzelparagraphen“ untersagt, ihr Amt für politische Zwecke zu gebrauchen, was den staatlichen Behörden ermöglichte, mit einem großen Maß an Interpretationsfreiheit gegen die Geistlichkeit vorzugehen. Im Jahre 1872 entzog das Schulaufsichtsgesetz der Kirche das Recht zur Inspektion der Schulen. Kurz danach wurde der Jesuitenorden verboten. Die Maigesetze (1873), die nur für Preußen galten, verschärften die Auseinandersetzungen, da sie als Voraussetzung für ein geistliches Amt ein Universitätsstudium verlangten. Durch die Schaffung des Standesamtes entriß man der Kirche alte Privilegien. Die Zivilehe wurde eingeführt, und der Staat übernahm die Beurkundung der Bevölkerung.

Der Kulturkampf in Rheinhessen

Die Provinz Rheinhessen war seit 1816 Teil des Großherzogtums Hessen. Dort wurde der Kulturkampf längst nicht so heftig geführt wie in Preußen und Bayern. Rheinhessen hatte 1871 ca. 250.000 Einwohner. Die größten Städte waren: Mainz (54.000), Worms (14.000) und Bingen (6.000). Die Bevölkerung im Norden (Mainz, Bingen) war überwiegend katholisch. Die Bevölkerung im südlichen und mittleren Teil Rheinhessens war überwiegend evangelisch.

In den ersten Jahren nach der Reichsgründung 1871 konnte man viele Gesetze als Ausdruck einer angestrebten Trennung von Staat und Kirche, beziehungsweise von Kirche und Schule verstehen. Ab 1874 stellten die sog. „Kampf-“ und „Strafgesetze“ jedoch nur noch den verzweifelten Versuch dar, den Widerstand der Katholiken zu brechen. Das Expatriierungsgesetz ermöglichte dem Staat die Ausweisung von Geistlichen und das „Brotkorbgesetz“ hatte die Einstellung aller finanziellen Unterstützungen der Kirche staatlicherseits zur Folge. 1875 wurden schließlich sämtliche Ordensniederlassungen in Preußen verboten. Diese Gesetze und auch die Tatsache, daß in Preußen zeitweise fast mehr Geistliche im Gefängnis als auf der Kanzel waren, bewirkten nur ein noch engeres Zusammenrücken der Katholiken.

Ab 1876 war der Kulturkampf praktisch beendet. Bismarck hatte erkannt, daß der ultramontane (papsttreue) Widerstand nicht zu brechen war. Außerdem zeichnete sich ein Bruch Bismarcks mit den Nationalliberalen ab (Schutzzollpolitik). Schließlich hatte der Reichskanzler eine neue Gefahr entdeckt: die Sozialdemokratie. Der Schwenk des „Rheinischen Volksboten“ zum neuen „Reichsfeind“ hin wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß der Leitartikel vom 1. Januar 1876 nun gegen die Sozialdemokraten und nicht mehr gegen die Liberalen gerichtet ist.

Der Kanzelparagraph

Der ''Kanzelparagraph“ wurde in Rheinhessen insgesamt nur dreimal angewandt In allen drei Fällen verhängte man jedoch keine Strafe. Der erste Betroffene war Pfarrer Sickinger aus Oppenheim, der wegen einer Äußerung zur Schulpolitik zu drei Wochen Festungshaft verurteilt wurde. Bei der Revisionsverhandlung sprach das Gericht ihn jedoch frei. Ein halbes Jahr später mußte der Binger Pfarrer zum Verhör erscheinen. Er hatte sich in einer Predigt darüber beschwert, daß am Sedanstag, dem Gedenktag zur Entscheidungsschlacht im deutsch-französischen Krieg bei Sedan, September 1870, der Unterricht ohne vorherige Ankündigung ausgefallen sei. Das Verfahren wurde nach kurzer Zeit eingestellt. Der letzte Fall ereignete sich 1875. Der Betroffene war diesmal Pfarrer Closmann aus Nieder-Ingelheim. Auch seine Anklage ließ man bald fallen. Da es sehr unwahrscheinlich ist, daß sich alle Geistlichen während der Ausübung ihres Amtes jeglicher politischen Äußerung enthalten haben, muß man annehmen, daß sich das Großherzogtum Hessen in diesem Punkt sehr großzügig gegenüber der Kirche verhalten hat

Das Jesuitengesetz

Die einzige Niederlassung der Jesuiten in Hessen befand sich in Mainz. Dort wirkten fünf Jesuiten in der St. Christophskirche. Am 14. August 1872 wurde dieser kleine Orden verboten. Den Jesuiten untersagte man jede seelsorgerische Tätigkeit, was zur Folge hatte, daß drei von ihnen aus Deutschland auswanderten. Einer der zurückgebliebenen, Adolph von Doß, wollte in Mainz bleiben, um die Schulden bezahlten zu können, die er zur Renovierung der St. Christophskirche aufgenommen hatte. Der Staat forderte ihn jedoch auf, Mainz zu verlassen, was er wenige Wochen später auch tat. Michael Zöller, der zweite dagebliebene Jesuit, wollte zu seinem Vater nach Seligenstadt ziehen. Dort angekommen, forderte man ihn auf, sich an einen Ort im Großherzogtum zu begeben, in dem er seine seelsorgerische Tätigkeit nicht ausüben könne, d.h. in eine rein protestantische Gemeinde. Nachdem man ihm das Zelebrieren der heiligen Messe verboten hatte und ihn außerdem noch zwangsversetzen wollte, wanderte er nach Amerika aus.

Das Schulgesetz

Das einzige vom hessischen Landtag beschlossene Gesetz gegen die Kirche war das Schulgesetz von 1873. Außer für einige Gemeinden, die ihre Konfessionsschule noch ein paar Jahre behielten, bedeutete dieses Gesetz praktisch die Einführung der Kommunalschule im Großherzogtum Hessen. So existierten 1884 im Kreis Mainz nur noch zwei katholische Konfessionsschulen (Kastel und Harxheim). Für rein katholische Ortschaften, wie z.B. Gau-Algesheim, hatte dies jedoch keine großen Änderungen zur Folge, da es dort sowieso (fast) nur katholische Kinder und Lehrer gab.

Im Zuge der Einführung der Kommunalschule wurden viele geistliche Lehrerinnen entlassen. Im rheinhessischen Raum geschah dies in Finthen, Herrnsheim, Weisenau, Kostheim und Abenheim. Für die Schwestern der Göttlichen Vorsehung, deren Generalmutterhaus in Mainz steht, war das Verbot des Schuldienstes ein schwerer Schlag, da sich fast alle 63 Lehrschwestern ein neues Arbeitsfeld suchen mußten. Zur finanziellen Notlage kam noch hinzu, daß keine neuen Mitglieder mehr aufgenommen werden durften. Aus dieser schlechten Situation heraus wanderten einige Schwestern nach Amerika aus. Das Gros der Daheimgebliebenen war gezwungen, sich auf Kindergärten, Kranken- und Altenpflege umzustellen. Zur Auseinandersetzung um die Schule gehört auch die Versetzung des katholischen Gymnasialdirektors Bone in Mainz in den Ruhestand. Sein Nachfolger, Dr. Bisfeld, mußte ebenfalls gehen, da er angeblich im Verdacht stand, ein Ultramontaner zu sein. Auch bei der Entscheidung über schulfreie Tage steckte die Kirche gezwungenermaßen zurück. So fiel z.B. in Bingen am Josephstag (19. März) kein Unterricht aus, damit die Kinder zur Kirche gehen konnten.

Vereinzelt wurden ausgewiesene Pfarrer nach dem Zelebrieren einer Messe oder nachdem sie Kollegen besucht hatten, festgenommen. Im August 1874 gab es bei vielen katholischen Geistlichen und bei vielen katholischen Organisationen Hausdurchsuchungen. Den Kapuzinern untersagte man das Betteln.

Die Auseinandersetzungen in der Presse

Im Binger Raum erfolgte zeitweise sogar in jeder Ausgabe ein heftiger Schlagabtausch zwischen dem „Rheinischen Volksboten“ und dem liberalen „Rheinhessischen Beobachter“. Beide versuchten, durch Zitieren des anderen und durch das Widerlegen angeblicher Lügen das gegnerische Blatt der Lächerlichkeit preiszugeben.

Als Beispiel für solche Streitigkeiten sei hier die Auseinandersetzung um ein Wettangebot des damals schon verstorbenen Paters Roh angeführt. Dieser hatte demjenigen tausend Gulden versprochen, der ihm beweise, daß die Jesuiten den Grundsatz „Der Zweck heiligt die Mittel“ anwendeten und verträten. Wer dies jedoch ohne Beweis behaupte, wäre ein „ehrloser Verleumder“. Der „Rheinhessische Beobachter“ wollte den Beweis erbringen und der „Rheinische Volksbote“ stellte sich auf die Seite Pater Robs. Der Verlierer dieser Wette sollte den Armen der Gewinnerstadt tausend Gulden zahlen. Bei dem Streit, der bald die breite Öffentlichkeit interessierte, betrachteten sich beide Seiten natürlich von Anfang an als Sieger. Über Monate hinweg machte man sich mit bissigen Polemiken und gelegentlich auch mit Kraftausdrücken („feiger Lügner“, „niederträchtiger Schurke“, „Betrüger“) das Leben schwer, wobei die Wortführer der verfeindeten Parteien der Großwinternheimer Pfarrer Krumm und Pfarrer Koser waren. Am Ende dieses unrühmlichen Streites gingen die Armen der beiden Orte natürlich leer aus.

Wahlen

Rheinhessen hatte bei den Reichstagswahlen zwei Wahlkreise. Im ersten Wahlkreis (Bingen-Alzey) siegten die Nationalliberalen stets mit einer großen Mehrheit. Im Wahlkreis Mainz-Oppenheim stellten sie anfangs auch den Reichstagsabgeordneten, die Stimmenmehrheit schmolz aber immer mehr zusammen. 1878 siegte schließlich der Zentrumsabgeordnete Domkapitular Christoph Moufang in der Stichwahl. Die Niederlage der Nationalliberalen wurde jedoch zum großen Teil durch die in Mainz sehr stark gewordenen Sozialdemokraten herbeigeführt, deren Kandidat 1878 Wilhelm Liebknecht war. Von dieser Ausnahme abgesehen, stellten alle Gemeinderats-, Landtags- und Reichstagswahlen einen Wettstreit zwischen den „Fortschrittlichen“ und den „Ultramontanen“ dar.

In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner spielten die Wahlen anscheinend keine so große Rolle. Im „Rheinischen Volksboten“ erschienen Kommentare und Aufrufe in der Regel erst zwei Wochen vor der Wahl. Wahlveranstaltungen wurden so gut wie nie abgehalten.

Katholikenversammlungen

Katholikenversammlungen, oft im Rahmen von sogenannten „katholischen geselligen Vereinen“ stattfindend, hatten meist unterhaltenden Charakter. Auch in Gau-Algesheim wurde ein „Katholischer geselliger Verein“ gegründet. Es wurden Theaterstücke aufgeführt, Tanzabende veranstaltet oder einfach gemütlich beisammen gesessen.

Als der Kulturkampf in Rheinhessen seinen Höhepunkt erreichte (1873), wandelten sich diese Veranstaltungen. Katholische Geistliche und Bürger griffen nun in politischen Reden den Staat und die Liberalen heftig an. Die Hauptthemen der Reden waren die Gesetze gegen die Kirche, insbesondere das Schulgesetz, die Treue zum Papst, die Gründung katholischer Vereine und der Aufruf zum passiven Widerstand, bei Einhaltung „der Grenze des bürgerlichen Gehorsams“, so Kaplan Spreng aus Gau-Algesheim, der die Redaktion des „Rheinischen Volksboten“ leitete.

Im Jahre 1872 fanden im Zeichen der Jesuitengesetze zwei Veranstaltungen statt. Zu der ersten Versammlung in Herrnsheim erschienen 1500, zu der zweiten Versammlung in Mainz sogar 2000 Personen. Ein Jahr später, als die Erregung über das Schulgesetz weite Teile der katholischen Bevölkerung erfaßte, erwähnt der „Rheinische Volksbote“ nicht weniger als 17 Versammlungen. Teilweise waren diese so überfüllt, daß man sie ins Freie verlegen mußte, wie z.B. in Dromersheim. In Oestrich und in Neuendorf attackierten einzelne Redner Staat und Regierung so scharf, daß die Polizei die Versammlung auflöste.

Bald darauf nahm die Zahl der politischen Veranstaltungen rapide ab. 1874 berichtet der „Rheinische Volksbote“ noch über drei, ab 1875 dann über keine Versammlungen mehr.

Volksfeste

In den ersten Jahren nach dem deutsch-französischen Krieg bildeten in allen Ortschaften die ehemaligen Soldaten sogenannte „Kriegervereine“, die der Traditionspflege dienten und die Kameradschaft über den Krieg hinaus aufrecht erhalten sollten Zu jedem „Kriegerverein“ gehörte natürlich eine Fahne. Zu jeder Fahne gehörte eine Fahnenweihe, die im Rahmen eines großen Volksfestes durchgeführt wurde. Sehr viele Fahnenweihen fielen in die Zeit, in der die Wogen des Kulturkampfes am höchsten schlugen.

In Gau-Algesheim, wo es zwei Kriegervereine gab, in Appenheim und Gau-Odernheim verliefen sie friedlich und ohne Zwischenfälle. In Gau-Bickelheim konnte sich ein liberaler Redner gerade noch vor einer wütenden Menschenmenge in Sicherheit bringen. In Nieder-Saulheim kam es zu einer Schlägerei zwischen den beiden verfeindeten Lagern. Das gleiche ereignete sich in Mommenheim, wo vorher schon viele Katholiken nach einer Rede, in der Sozialdemokraten und Ultramontane in gleicher Weise als Reichsfeinde bezeichnet wurden, aus Protest nach Hause gegangen waren. Bei der Fahnenweihe in Jugenheim verließ der Heidesheimer „Kriegerverein“ die Veranstaltung. Einen katholischen Boykott gab es nach einer Anti-Papst-Rede auch in Frei-Laubersheim. Das Binger Sedansfest boykottierten die Katholiken ebenfalls. Der einzige erwähnte Fall, in dem Protestanten einem Fest fernblieben, ereignete sich in Groß-Winternheim.

Demonstrations- und Solidaritätsmärsche

Demonstrationen in heutiger Form wurden damals kaum durchgeführt. Von zwei Fällen berichtet der „Rheinische Volksbote“. Der Jesuit Adolph von Doß, der 1872 aus Mainz auswanderte, konnte bei seiner Abreise 500 Menschen zuwinken, die ihn durch die Stadt zum Bahnhof begleitet hatten . Als die Schulschwestern in Büdesheim entlassen wurden, organisierten Eltern und Schüler einen Trauermarsch. Der interessanteste Fall ereignete sich 1874 und ähnelt schon sehr stark einer Karikatur des staatlichen Versuches, den ultramontanen Widerstand zu brechen. Damals besuchte der „gesperrte“ Pfarrer Müller den Stromberger Pfarrer. Kurz darauf sollte Pfarrer Müller verhaftet werden. Man ließ ihm jedoch noch einige Tage Zeit, damit er zu Hause einiges erledigen konnte. Als er dann von einem Ministerialbeamten und zwei Gendarmen abgeholt wurde, um nach Simmern zu gehen, schloß sich ihnen eine große Menschenmenge an. In jeder Ortschaft, durch die sie marschierten, wuchs die Zahl ihrer Begleiter weiter an. Als einmal eine Unruhe aufkam, beruhigte der Pfarrer seine vielen Begleiter, nachdem der Staatsvertreter dies erfolglos versucht hatte, Auch die Auflösung dieses Demonstrationszuges blieb dem Pfarrer vorbehalten. Der Vertreter der Geistlichkeit hatte also die Macht über das Volk und die Polizei, die er sogar in Schutz nehmen mußte. Welch eine Blamage für den Staat!

Protestschreiben

Fast alle Protestschreiben, die in Rheinhessen abgefaßt wurden, richteten sich gegen das Schulgesetz, Eine Ausnahme bildeten die Proteste Mainzer Katholiken gegen das Jesuitengesetz, denen sich der Gau-Algesheimer „Katholische gesellige Verein“ anschloß. Die Geistlichen der Dekanate Bingen und Ingelheim gaben ebenfalls eine Erklärung gegen die Ausnahmegesetze ab. Von August bis Oktober 1873 gab es eine Flut von Adressen gegen das Schulgesetz aus beinahe allen Gemeinden. Diese wurden teilweise sogar von Protestanten unterschrieben. In manchen Orten unterzeichneten sämtliche katholischen Männer, wobei in diesen Fällen allerdings mehr Mut dazu gehörte, nicht zu unterschreiben. Im Oktober 1874 wurden nochmals eine große Anzahl von Protestschreiben abgesandt, die sich gegen die Kirchengesetze in ihrer Gesamtheit richteten. Gegen die Entlassung der Schulschwestern sammelte man in Büdesheim über tausend Unterschriften.

Es wurden jedoch nicht nur Adressen gegen, sondern auch für die Kirchengesetze abgefaßt. Obwohl man annehmen kann, daß der „Rheinische Volksbote“ nicht alle erwähnte, ist es sehr wahrscheinlich, daß die Zahl der ultramontanen Unterschriften die der Liberalen bei weitem übersteigt.

Sonstiges

Ein Zeichen des Protestes war auch die gestiegene Zahl der Gottesdienstbesucher, die bei den Mainzer Jesuiten besonders groß gewesen ist. Ein Beispiel für das Versagen vieler staatlicher Maßnahmen gegen die Geistlichkeit ist das Bettelverbot für Kapuziner. Die Folge dieses Verbotes war, daß die katholischen Bürger ihre Almosen zu den Mönchen brachten. Nach dem „Rheinischen Volksboten“ sollen sie sogar mehr bekommen haben als früher.

Zusammenfassung

Der Kulturkampf wurde in Rheinhessen bei weitem nicht so scharf geführt wie in Preußen oder Bayern. Die Geistlichen, mit Ausnahme der „vertriebenen“ Jesuiten, hatten immer noch relativ viel Freiheiten. Die Auseinandersetzungen erreichten 1873 ihren Höhepunkt, da in dieser Zeit die katholische Bevölkerung aktiv am Widerstand teilnahm. Ursache dafür war das Schulgesetz, durch das die Bürger direkt betroffen waren. Viele katholische Gemeinden hatten unter großen finanziellen Anstrengungen Schulen errichtet, die man ihnen jetzt wegnehmen wollte. Einen breiten Protest gegen die Freiheitseinschränkungen der Geistlichen gab es nicht. Der Kulturkampf wurde ab 1874 in der Regel nur noch von der katholischen Presse, den katholischen Geistlichen und dem Zentrum weitergeführt.

Erstveröffentlichung: Helm, Karl Heinz/Herrmann, Christofer, Pfarrer Peter Koser und die Zeit des Kulturkampfes, Beiträge zur Geschichte des Gau-Algesheimer Raumes, Heft 5/1983, Carl-Brilmayer-Gesellschaft Gau-Algesheim, S. 93-107