Gau-Algesheim und die Französische Revolution 1792-1816
Brilmayers Stadtgeschichte
Dreizehnter Abschnitt.
Algesheim während der Revolutionszeit, unter französischer Herrschaft und unter deutscher Verwaltung, 1792-1816. (Ohne Fußnoten)
Der 14. Juli des Jahres 1789, der Tag der Erstürmung der Bastille zu Paris und der Geburtstag der französischen Revolution, war der Vorbote jener weltbewegenden Ereignisse, wodurch fast ganz Europa in seinen Grundvesten erschüttert und ein Vierteljahr-hundert lang der Schauplatz mörderischer Kriege war. Unsäglich viel hatten während dieser Zeit Algesheim, sowie überhaupt alle umliegenden Ortschaften, hauptsächlich wegen der Nähe der Festung Mainz, zu leiden.
Den ersten Krieg brachte das Jahr 1792. Der Bürgergeneral der französischen Armee, Custine, erschien am 17. Oktober 1792 mit einem Haufen Franzosen – nur zum geringen Teil waren es Linientruppen, meistens „zusammengelaufenes Gesindel“ – vor Mainz. Obgleich die Franzosen nicht einmal Geschütz mit sich führten, übergab doch der Kommandant, General von Gymnich, am 21. Oktober 1792, diese wichtige Festung dem Feinde, ohne auch nur einmal Widerstand versucht zu haben. Feigheit und Unentschlossenheit, sowie Einverständnis mit Anhängern der revolutionären Grundsätze in der Stadt selbst hatten den Kommandanten zu dieser schmachvollen Übergabe verleitet. Eine kleine Schar kaiserlicher Soldaten hatte indes nicht eingewilligt und sich auf die rechte Rheinseite zurückgezogen. Die Bürgerschaft war empört, denn sie war zur äußersten Verteidigung entschlossen, mußte sich aber ins Unabänderliche fügen.
Mit Mainz kam zugleich der gesamte Landstrich bis nach Bingen in den Besitz der Feinde.
Gleich anfangs ließ Custine Mainz in besseren Verteidigungs-zustand setzen, den Bau der Festungswerke von Kastel beginnen und auf der Höhe von Zahlbach Schanzen errichten. Das waren harte Zeiten für die umliegenden Orte. Mitten im Winter mußten aus jedem Orte täglich eine Anzahl von Männern erscheinen, um die Schanzen möglichst schnell zu vollenden. Auch Algesheim mußte eine beträchtliche Anzahl Arbeiter nach Zahlbach senden. Jeder Arbeiter erhielt für diese saure Arbeit als Vergütung 20 kr. täglich, und war er nicht zur rechten Zeit an Ort und Stelle, dann mußte er sich auf die doppelte Arbeit gefaßt machen.
Wie es in Algesheim während dieser Zeit zuging, haben wir teilweise schon gesehen. Die Einwohner waren den Händen der Sieger preisgegeben. Das währte bis zum Frühjahr des folgenden Jahres 1793, in welchem die Preußen Bingen besetzten, dann gegen Mainz vorrückten, es am 23. Juli eroberten und die Franzosen zwangen, das kurmainzische Gebiet wieder zu verlassen. Dadurch kam auch Algesheim wieder zum Erzstift.
Indes rückten die Franzosen im Spätjahre 1794 abermals gegen Mainz vor. Anfangs Oktober besetzten sie Bingen, die Deutschen zogen sich zurück; am 14. Oktober hatte der kaiserliche Feldherr General-Lieutenant von Kalkreuth sein Hauptquartier in Algesheim, aber schon am folgenden Tage mußte er abziehen und Algesheim kam zum zweitenmale unter französische Herrschaft.
Noch in demselben Monat begannen die Franzosen die Festung Mainz von allen Seiten einzuschließen. Das war eine schreckliche Zeit für die Einwohner der Stadt Mainz, aber vielleicht in noch höherem Grade für die Bewohner der umliegenden Ortschaften bis nach Bingen hinab. Aus allen Orten waren wiederum, wie 1792, Männer nach Finthen beordert, um an den Schanzen zu arbeiten. Algesheim hatte täglich 25 Mann zu stellen, fehlte einer, dann mußte es der Schultheiß büßen, war aber ein Bürger nicht dazu im stande, dann mußte er 1 fl. 30 kr. In die Gemeindekasse zahlen. Gar zu häufig sollten die Bürger Getreide, Stroh, Heu, überhaupt Lebensmittel liefern, da aber zuletzt auch hierin aller Vorrat ausging, so mußten sie beträchtliche Geldbeiträge leisten. Nur mit vieler Mühe und mit vielem Gelde konnten sich die Bewohner selbst das Notwendigste zu Lebensunterhalt verschaffen, und dabei waren sie noch mit starker Einquartierung belastet. Da darf es uns nicht wundern, wenn hie und da im Hauptquartier „zum Besten der Gemeinde ein Präsent gemacht wurde“ , und wenn es heißt: „es wurde sehr oft requiriert, aber durch Essen und Trinken manches abgewehrt zur Schonung des Orts.“
Welche Not schon gleich anfangs des Jahres 1795 in unserer Gegend herrschte, sagt uns ein Bericht aus damaliger Zeit. Die „Mainzer Zeitung“ vom 19. Januar 1795 schreibt: „Vor einigen Tagen sind aus Bingen 2 Männer über das Eis nach Rüdesheim und von da hierher gekommen, welche aussagen, daß die Franzosen gleich bei ihrem Einmarsche alles Getüch, Öl, Lederwerk gegen Assignaten eingekauft hätten; Brot fieng jetzt an seltener zu werden, Fleisch sei aber noch ziemlich wohlfeil; Salz koste das Pfund 36 kr. und sei fast nicht mehr, sowie Zucker gar nicht zu haben; der Preis des Kaffees sei das Pfund 2 fl. 45 kr. und aus Mangel an Fourage wären allein schon in Bingen in den paar Monaten über 500 Pferde gefallen.“
Am schlimmsten waren in dieser Zeit diejenigen daran, welche Pferde oder Ochsen besaßen, sie wurden beständig requiriert, um Fronfuhren zu leisten nach Mainz, Bingen, Kreuznach, Alzey, Worms u.s.w. Allerdings bekamen sie dafür aus der Gemeindekasse eine Vergütung, aber sie war so gering, daß sie kaum im stande waren, damit ihre notwendigen Auslagen zu bestreiten, und doch belastete diese Vergütung die Gemeindekasse schon in den ersten 9 Monaten des Jahres 1795 mit 439 fl. . Vielfach wurden aber auch den Bürgern die Pferde zurückbehalten oder sie gingen ihnen durch die Anstrengungen zu grunde. Ja, es war zuletzt sogar gewagt, mit Wagen und Pferden ins Feld zu fahren, denn nur zu oft wurden die Leute durch herumstreifende Feinde aufgegriffen und gezwungen nach Mainz zu fahren, oder die Pferde wurden ihnen ausgespannt und sie selbst so lange in Arrest gesetzt, bis die Pferde wieder zurückkamen. Um dieses lästigen Frondienstes überhoben zu sein, schafften deshalb viele Bürger ihre Pferde und Ochsen ab, aber auch dafür wurden sie wieder in Strafe genommen.
Obschon wiederholt, oft in einer Woche mehrmals, „starke Re-quisitionen“ vom Hauptquartier von Ober-Ingelheim aus statt-fanden, „welche dem Ort so viel zugesetzt, daß der Ort unter der Last hätte unterliegen müssen,“ so plünderten auch noch die Truppen, welche in den umliegenden Ortschaften lagen, die hiesige Gemarkung; außerdem wurde die Gemeinde gezwungen, täglich Butter, Eier, Wein, Leinwand, Salz u.s.w. ins Militärhos-pital, welches im Pfarrhaus errichtet war, unentgeltlich zu liefern.
Um alle diese Ausgaben bestreiten zu können, war die Gemeinde gezwungen, neue Kapitalien aufzunehmen; sie nahm dazu den Kirchen- und Hospitalfonds in Anspruch, deshalb bekamen die Bürger, welche solche Kapitalien aus diesen beiden Fonds geliehen hatten, meistens arme Leute, dieselben plötzlich gekündigt, wodurch vielfach die Not noch vermehrt wurde.
Außerordentlich groß war die Beisteuer der Gemeinde zu den Holz-Requisitionen. „Die hiesige Allee und der Ortsgraben bestunde in 2000 stäm, jeden stam ad 4 fl. thut 8000 fl., der gemeine Füchtewald auf dem sand in mehr als 15000 stäm, jeden stam nur 15 kr. zu rechne, thut 2500 fl., 100 der schönsten grösten Eichbäum im Land, oder gemarkungsgraben, jeden nur zu rechne 10 fl., thut 1000 fl. In Summa 115000 fl.“ All’ dieses Holz nahmen die Franzosen in Empfang, ohne auch nur einen Heller dafür zu vergüten.
Die herrschende Not verursachte viele Krankheiten und häufige Sterbefälle. In keinem Jahr seit der schrecklichen Pest von 1666 starben so viele Leute wie 1795. In den Sterberegistern sind 103 Todesfälle aufgezeichnet, während nur 31 Geburten notiert sind. Auch unter den Soldaten waren viele Krankheitsfälle eingetreten, so daß das Pfarrhaus in ein Lazaret umgewandelt wurde; die Anzahl der gestorbenen Soldaten ist jedoch nicht aufgezeichnet.
In dieser überaus traurigen Zeit war Schultheis Heinrich Kaißer. Er war im vollsten Sinne des Wortes der Wohlthäter der Gemeinde, er lebte und starb für sie. Unausgesetzt, Tag und Nacht war er thätig zum Wohle derselben. Wiederholt hatte er durch seine Fürbitte erwirkt, daß Einquartierung unterblieb oder bereits einquartierte Truppen in andere Ortschaften verlegt wurden, daß Requisitionen ganz abgewendet, andere schonender ausgeführt wurden; durch seine Bemühung war es gelungen, daß die Anzahl der Schanzarbeiter von 25 auf 20, ja einmal sogar auf 10 herabgesetzt wurde. Diese Erleichterungen zu erwirken kostete oft viel Mühe und Anstrengung; auch Widerwärtigkeiten und Misshandlungen blieben ihm nicht erspart, wiederholt wurde er ins Gefängnis abgeführt, manchmal aus ganz nichtigen Ursachen. So kamen am 24. März „acht gendarmen auf Algesheim, citirten den schultheis und gericht auf das Rathaus und liesen durch den Klockenschlag die gemeind versammlen, und publicirten einen Generalbefehl wegen gefehlter frohnden und nahmen den schultheis Kaißer in arrest mit fort im angesicht der gantzen gemeind.“ „Am 30. Mertz wurde abermal hiesiger Schultheis Kaißer durch gendarmen auf Heidesheim in arrest gesetzt, wegen der Hand- und Fuhrfrohnden, da sich die Gemeind wiederspenstig erzeigt hätte.“ „Wegen einem nicht einquartirten soldaten wurde der schultheis Heinrich Kaißer auf den 28te July auf Ober-Ingelheim auf die Cor de gart in arrest unter 50 Mann Wacht gesetzt.“ Allen diesen Arbeiten und Mißhandlungen erlag der sonst kräftige Mann, er starb noch in demselben Jahre.
Die Gemeinde wußte alle diese Aufopferungen ihres Schultheißen wohl zu schätzen und suchte sich auch dafür dankbar zu zeigen. Denn „da hiesiger Ort Kein Vorstand gehabt und Heinrich Kaißer vermög schriftlicher Zeichniß und Autorisation der gantzen gemeind aus Zwang und noth, Tag und Nacht der gemeind als schultheis dienen mußte, auch der gemeind viel genutzt und 9 Monat lang als schultheis ohne Salarium in den Kriegsstrabatzen treu gedienet, auch wegen gehabten Lebensgefahren sein Todt gehohlt hat, so wird sein Taggeld p. Tag ad 20 kr. der witib und dessen Kinder ausbezalt.“
Ein volles Jahr dauerte bereits die Blokade von Mainz. Allein die Franzosen erreichten ihren Zweck dennoch nicht, denn der österreichische Feldmarschall Clerfayt entsetzte am 29. Oktober 1795 die Festung und trieb die Feinde in die Flucht. Infolge davon mußten die Franzosen unsere Gegend verlassen, so daß die Deutschen schon am 1. November Bingen besetzten.
So war Algesheim wieder in deutschen Händen. Aber damit hörte die Not und das Elend noch lange nicht auf, es begann vielmehr wieder von neuem. Algesheim erhielt jetzt eine starke Abteilung Österreicher als Einquartierung, sie mußten von der Gemeinde unterhalten werden. Dazu gehörte aber Geld; um dieses zu erhalten, verpfändete die Gemeinde das Hospital. Wie groß die Not gewesen sein muß, zeigen uns die Worte, mit denen die Verpfändung desselben begründet wird. „Die Gemeindekasse,“ heißt es in der Eingabe, ist so geleert, daß sie nicht im stande ist, dem kaiserlichen Militär das Licht auf die Wachen zu stellen.“
Doch die Franzosen blieben nicht ruhig. Ihr Ziel war und blieb, Mainz mit dem ganzen linken Rheinufer in ihre Hände zu bekommen.
Im Juni des folgenden Jahres, 1796, erschienen sie schon wieder in unserer Ge-gend, besetzten Bingen, Algesheim und die beiden Ingelheim zum drittenmale und suchten auch Mainz zu erobern, doch so schnell gelang es noch nicht. Wiederholt wurde in kleinen Scharmützeln mit wechselndem Glücke gekämpft.
Anfangs Oktober waren die Franzosen gezwungen, das rechte Ufer der Selz zu verlassen, nachdem sie vorher noch die beiden Ingelheim geplündert. Am furchtbarsten aber wurde in dieser Zeit, 28. September, Sauer-Schwabenheim heimgesucht. Wegen eines ganz unbewiesenen Vorfalles wurde es fast vollständig niedergebrannt.
In den nächsten Tagen wurden alle feindlichen Vorposten noch weiter zurückgeworfen; Algesheim kam wieder in deutsche Hände. Am 9. Oktober zog sich der Feind über die Nahe zurück und auch Bingen wurde wieder von den Deutschen besetzt.
Doch blieb die Gegend nicht lange in deutschen Händen, denn schon am 28. Ok-tober kamen die Franzosen mit großer Verstärkung über die Nahe und vertrieben die Deutschen wieder bis über die Selz. Zwei Tage lang wurde in der Umgegend von Al-gesheim hartnäckig gekämpft. Besonders schwer wurde Dromersheim mitgenommen, denn durch hineingeworfene Granaten waren mehrere Gebäude in Brand geraten.
Auch im folgenden Jahre dauerten die kleinen Scharmützel und Reibereien fort bis durch den Frieden von Campo Formio (17. Oktober 1797) die österreichische Besatzung aus Mainz zurückgezogen und die Stadt dem Feinde preisgegeben wurde, welcher sie denn auch am 20. Dezember besetzte und samt dem ganzen linken Rheinufer mit der fränkischen Republik vereinigte. Dadurch ward Algesheim von Kurmainz, dem es acht Jahrhunder-te angehört hatte, losgerissen, um nie mehr mit demselben vereinigt zu werden. Die Stadt kam zum Departement vom Donnersberg und ward dem Kanton Ober-Ingelheim zugeteilt.
Alsbald begannen die Franzosen in den einzelnen Gemeinden, die ihnen zugefallen waren, wieder geordnete Zustände herzustellen. Die kurfürstlichen Beamten wurden beseitigt und die Gemeindeverwaltung erhielt eine vollständige Umgestaltung. Statt eines Schultheißen erhielt Algesheim einen Maire, ihm zur Seite stand ein Adjunkt nebst neun Municipalräten. Der erste Maire war Quirin Ewen. Ihm folgte 1811 Valentin Kaiser und dann Rudolf Eickemeyer bis zum Abzug der Franzosen 1813.
Gleichzeitig mit dem Einzuge der Franzosen durchschwärmten aber auch zahlreiche „Freiheitsprediger und Klubbisten“ die ganze Gegend, verkündeten überall den Bewohnern, daß sie aus elenden Sklaven jetzt freie Männer geworden seien und suchten sie so für die französische Republik zu begeistern. „Aber vielfach verfuhren diese Kommissarien sowohl in Bingen als in den nahegelegenen Ortschaften nicht als Freiheitsprediger, sondern als asiatische Despoten und drohten jedem sich Widersetzenden mit den fürchterlichsten und schauderhaftesten Mißhandlungen.“
Zum Andenken an die errungene Freiheit wurden unter theatralischen Aufzügen in den einzelnen Gemeinden sog. Freiheitsbäume aufgepflanzt. Auch in Algesheim wurde auf dem Markte ein solcher Freiheitsbaum errichtet. Da aber die Einwohner sich die Freiheit nahmen, ihn wiederholt zu beschädigen und niederzureißen, so ließ der Maire, Quirin Ewen, Pallisaden um denselben aufstellen.
Den Gottesdienst, soweit er innerhalb der Kirche abgehalten wurde, ließ man unangetastet, nur durfte er nicht nach außen hervortreten; deshalb wurden alle Prozessionen, selbst alle Leichenbegängnisse verboten, ja sogar das tragen der geistlichen Kleidung war strengstens untersagt und der „Bürger-Pfarrer“ musste wir jeder andere Bürger die dreifarbige Kokarde tragen.
Doch die Bürger gewöhnten sich bald an die neue Ordnung der Dinge, sie waren froh, daß nach so vielen Drangsalen endlich wieder der Friede zurückgekehrt war. Freilich ahnten sie nicht, daß in einigen Jahren noch viel Schrecklicheres über die ergehen sollte.
Ein großes Unglück brach während der französischen Zeit über die Stadt herein, ein starker Brand, welcher fast einen ganzen Stadtteil einäscherte. Am 6. September 1811, berichtet ein Augenzeuge, morgens zwischen 10 und 11 Uhr entstand im Hause des Herrn Staudenheimer auf der Langgasse (jetziges Haus der Gebr. Seligmann) durch Unvorsichtigkeit beim Waschen Feuer. Alsbald waren Wohnhaus, Scheuer und Stall sowie die Nachbarhäuser ein Raub der Flammen geworden, doch man hielt eine weitere Gefahr für beseitigt. Allein ein scharfer Ostwind, der sich erhob, trug die Feuerfunken auf die Bein und bald loderte dort die Flamme von neuem empor. Nur mit Mühe konnte man endlich Herr des Feuers werden. Es brannte bis abends 7 Uhr und es wurden ohne Scheunen und Stallungen 36 Häuser ganz eingeäschert und 19 teilweise. Die Brandstätte nahm einen Flächenraum von 12242 qm ein. Beim Löschen zeichneten sich die Rüdesheimer, Geisenheimer und Binger trefflich aus.
Unter französischer Herrschaft war Algesheim oft in sehr bedrängter Lage; den Höhepunkt des Elends erreichte es aber in den Jahren 1813 und 1814. Es war dieses jene glorreiche Zeit, wo die verbündeten deutschen Mächte im Verein mit Rußland gegen den Kaiser der Franzosen, Napoleon I., siegreich kämpften. So ruhmvoll der Feldzug war, so groß, oft unbeschreiblich war die Not in jenen Landesteilen, in welchen die Kriegsereignisse sich abwickelten. Zu den hohen Kriegssteuern, womit die Stadt und alle umliegenden Orte belastet waren, zu den häufigen Requisitionen, kam noch, daß die kräftigsten Söhne des Volkes als Soldaten in die französische Armee eintreten, daß die Leute ihr Vieh und Fuhrwerk oft auf längere Zeit zum Transport des Militärs, der kranken Soldaten und der Kriegsmunition hergeben mußten, daß selbst die Armen von zahlreicher und kostspieliger Einquartierung nicht frei waren. Noch schlimmer gestalteten sich die Verhältnisse, als die französische Armee nach der Schlacht bei Leipzig (16. 18. und 19. Oktober 1813) sich über den Rhein nach Frankreich retirierte. Der erste Andrang der flüchtigen Franzosen geschah im November 1813.
Jetzt begann wieder eine traurige Zeit für die Bewohner unserer Gegend. Täglich kamen französische Truppen an, oft im trau-rigsten Zustande, sie alle mußten von den Gemeinden unterhalten werden; außerdem sollten fast täglich frisches Fleisch in die Magazine nach Mainz, namentlich aber in das Militärhospital nach Bingen geliefert wurden, wo zuweilen 1200, täglich aber etwa 500-600 Kranken lagen. Das dauerte bis Ende Dezember.
Durch das Einrücken der Truppen der Verbündeten in das linksrheinische Gebiet ward die Lage Algesheims und der übrigen Gemeinden nicht besser. Der Übergang der Verbündeten geschah am 1. Januar 1814.
Deutsche und russische Truppen aller Waffengattungen wechselten miteinander ab. Alle verlangten Fourage und Verpflegung in ausgiebigster Weise, da die Magazine in Bingen und Ingelheim zur Verpflegung nicht ausreichten. Dabei waren namentlich die Russen von der größten Rücksichtslosigkeit; sie verlangten „bei Androhung von Mißhandlung im Ausbleibungsfalle Fourage“ und ließen nur zu oft ihren Drohungen die That folgen. Selbst wenn sie ihre Fourage aus den bestehenden Magazinen bezogen, so haben sie doch große Kosten verursacht, „indem der russische Soldat als ein bekannter guter Esser und Trinker drei- und viermal mehr verzehrt habe, als ihm aus besagten Magazinen verabreicht worden sei.“ Dazu kamen wieder die so überaus drückenden Frondefuhren.
In das Militärhospital nach Nieder-Ingelheim mußten von Algesheim wiederholt Teppiche, Leintücher, Bettstellen etc. geliefert werden. Ebenso wurde wiederholt für die Tafel des General-Lieutenant und Kommandanten Baron v. Korf, der in Ober-Ingelheim residierte, in Algesheim Wein requiriert.
Zu gleicher Zeit hatte Baron von Korf aus den einzelnen Orten wieder eine große Anzahl Männer verlangt, die unverzüglich als Arbeiter in die Schanzen bei Finthen eintreten sollten.
Die Truppendurchzüge dauerten mit nur geringen Unterbrechungen fast die ganze erste Hälfte des Jahres 1814 an. Und nachdem sie einige Zeit aufgehört hatten, erhielt die Gemeinde eine beständige Einquartierung. Wir entnehmen darüber einem Schreiben des Bürgermeisters an den Kreisdirektor Wieger zu Bingen folgendes: „Die Gemeinde Gau-Algesheim hatte vom 29. Juni 1814 bis 20. September desselben Jahres die ganze Wagenburg des kaiserl. Regiments Erzh. Rudolf, ferner während dieser Zeit und auch späterhin das Offizierkorps des 2. Bataillons der mittelrheinischen Landwehr, endlich eine ganze Kompagnie des Regiments Erzherzog Rudolf. Sie ist die einzige Gemeinde des Kantons Ober-Ingelheim, welche von Juni besagten Jahres bis zum Ende desselben unausgesetzt mit Einquartierung belastet war und in diesem Zeitraume 12705 Mundportionen verabreichte.“
Zum Kriegselend, das den Wohlstand der Bürgerschaft so gewaltig herunterdrückte, gesellte sich schon im November 1813 eine bösartige ansteckende Krankheit. Die in den Schlachten des Jahres 1813 verwundeten und besonders nach der Schlacht bei Leipzig über den Rhein fliehenden Franzosen hatten den schrecklichen Typhus, das sogenannte Lazaretfieber, mitgebracht, eine Krankheit, die überall fürchterliche Opfer kostete, nicht allein unter den Soldaten, sondern auch unter den Bürgern, in deren Orte sie gebracht wurde. Die mit dieser Krankheit verbundene, äußerst große Sterblichkeit vermehrte die herrschende Not. Wie furchtbar die Krankheit auch in Algesheim wütete, ersieht man aus den Sterberegistern. Während von 1796-1812, wo ein normaler Gesundheitszustand herrschte, durchschnittlich 40 Todesfälle im Jahr vorkamen und 1813 vom 1. Januar bis 1. November die Zahl derselben zusammen 23 betrug, starben im November 1813 allein 18 Personen, im Dezember 29, 1814 im Januar 17, im Februar 14, im März 17, im April 15, im Mai 12, erst vom Juni an treten wieder normale Verhältnisse ein; es starben bis zum Schlusse des Jahres nur noch 27 Personen. Aber bei dieser großen Sterblichkeit ist wohl zu bemerken, daß sich unter den Gestorbenen nicht ein einziger Soldat befindet.
Im Jahr 1815 ging es nicht besser. Die Stadt behielt ihre ständige Einquartierung bis der Rückzug der Verbündeten aus Frankreich seinen Anfang nahm. Wiederum durchzogen Tausende von Truppen der verschiedensten Waffengattungen unsere Gegend und ließen Not und Elend zurück. Vom 1. Juni bis 4. August waren in Algesheim einquartiert 21 Stabsoffiziere, 150 Offiziere, 5640 Unteroffiziere und gemeine Soldaten, 2380 Pferde. Mitte Juli waren 3 Tage lang mehr als 800 Mann Artillerie mit 700 Pferden einquartiert, welche während dieser Zeit 5600 Mundportionen und 2600 Pferderationen erhielten. In dieser Weise ging es weiter bis zum Ende des Jahres. Wieder waren es die russischen Soldaten, welche den Einwohnern am meisten zu schaffen machten. Erst mit dem Jahre 1816 traten wieder bessere Verhältnisse ein.
Mit dem Einmarsche der Truppen der Verbündeten auf das linke Rheinufer wurde zur Verwaltung des Departements vom Donnersberg alsbald eine österreichisch-bayerische Administration zu Kreuznach und später zu Worms niedergesetzt, unter ihr standen Kreisdirektionen. Algesheim wurde der Kreisdirektion zu Bingen unterstellt. Statt des seitherigen Maire wurde am 26. Februar 1814 Herr Quirin Ewen zum Bürgermeister von Algesheim ernannt und ihm zur Verwaltung der Gemeinde ein Schöffenrat beigegeben, Es war keine leichte Aufgabe, in dieser schweren Zeit die Angelegenheiten der Gemeinde zu leiten.
Der 18. Oktober 1814, der erste Jahrestag der glorreichen Schlacht bei Leipzig, wurde allgemein als Volksfest gefeiert. Die k. k. österreichischen Truppen, welche in Algesheim in Quartier lagen, marschierten auf den Berg, um durch Gewehrsalven vom Berge herab „zur Verherrlichung des für Deutschland ewig merkwürdigen Tages beitragen zu helfen.“ Der Schöffenrat beschloß, „daß für die auf dem Berg beiwohnenden k. k. österreichischen Truppen auf Rechnung der Gemeinde drei Viertelohm Wein gekauft, wie auch jedem derselben für 2 Kreuzer Weck verabreicht werden solle, Um auch einigermaßen anderen dieseitigen und jenseitigen Gemeinden gleichzukommen, so sollen auf Rechnung der Gemeinde 200 Wellen gekauft, in die Gegend der sogenannten Odenheck auf den Berg gebracht, um allda zur nämlichen Stunde wie anderwärts angezündet zu werden. Auch sollen die Böller dahin gebracht und das hierzu nötige Pulver von der gemeinde herbeigeschafft werden.“ Außerdem soll dem Herrn Bürgermeister, „welcher sich auf eine ächt deutsche Art anbot, den hier anwesenden Offizieren ein frugales Essen auf seine eigene Kosten zu verabreichen,“ der hierzu nötige Wein aus der Gemeindekasse vergütet werden.
Wegen allgemeiner Unsicherheit war zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Dezember 1814 unter dem Kommando von zwei „Wachtmeistern“ (Jakob Metz und Nikolaus Köhler) eine eigene Sicherheitsgarde aus „jungen, rüstigen Bürgern“ errichtet worden, deren Befehlen jedermann Folge leisten mußte.
Die Kriegszustände und die provisorische Verwaltung unserer Gegend dauerte noch fort bis zum 30. Juni 1816, wo durch einen in Frankfurt abgeschlossenen Staatsvertrag die jetzige Provinz Rheinhessen, somit auch Algesheim, dem Großherzogtum Hessen zugeteilt wurde. Damit waren endlich wieder geordnete Zustände eingetreten, aber es dauerte noch lange Zeit, bis die Gemeinde sich nur einigermaßen von dem schrecklichen Kriegselend erholte. Noch in demselben Jahre richtete der Schöffenrat an die Großh. Regierungskommission in Mainz ein Schreiben, das wir zum Schlusse dieses Abschnitts, weil es uns ein anschauliches Bild von der damaligen Lage der Gemeinde entrollt, mitteilen wollen. Es lautet:
Bericht des Bürgermeisters und des Schöffenrats
. . . in Betreff der mißlichen Lage, in welche sich die Gemeinde durch den eingetretenen Weinmißwachs und anderer nachteiliger Verhältnisse versetzt sieht. Die Kultur der Gemeinde Gau-Algesheim beruht vorzüglich auf dem Weinbau, der so beträchtlich ist, daß er in guten Jahren einen Ertrag von ungefähr 1000 Stück und im mittleren Durch-schnitt von 15 zu 15 Jahren beiläufig 400 Stück abwirft. Die dem Jahre 1811 bis jetzt gefolgten waren in Hinsicht des Weinertrages äußerst unergiebig und für gegenwärtiges ist durch den unlängst eingetretenen Frost selbst die kleinste Hoffnung auch nur das mindeste einzuherbsten, verschwunden, eine Hoffnung, worauf die Einwohner die einzige Möglichkeit gegründet hatten, ihren durch die starken Kriegslasten herabgesunkenen ökonomischen Verhältnissen etwas wieder aufzuhelfen, wenigstens zum Teil ihre Gläubiger zu befriedigen und dem Staate die auf ihren Gütern ruhenden Steuern zu entrichten, in welch letzter Hinsicht besonders gegenwärtig viele, in dem nur wenige das ihnen nötige Brot erziehen, sich nicht nur in der traurigen, sondern selbst schrecklichen Notwendigkeit befinden, jene Früchte, deren sie vielleicht nach einigen Monaten selbsten bedürfen, zu Markte zu bringen, so daß für das kommende Frühjahr allgemeines Elend und Not zu erwarten steht.
Um die Großh. Regierungskommission zu überzeugen, daß diese Darstellung keineswegs übertrieben sei, begnügt man sich damit, derselben eine summarische aber richtige Übersicht der seit dem Anfang des Jahres 1814 auf hiesige Gemeinde durch Mißwachs und Krieg gefallenen Nachteile und Lasten vorzulegen.
a) Die Weinlesen der Jahre 1814 und 1815 können nur zur Hälfte des mittleren Betrages, der weiter oben zu 400 Stück angegeben worden, gerechnet werden, dieses macht jährlich einen Verlust von 200 Stück, das Stück nur in dem ganz geringen Anschlag von 250 franc, giebt für besagte zwei Jahre einen Verlust von 90 000 fr. (?)
b) Bei dem im gegenwärtigen Jahr eingetretenen gäntzlichen Mißjahr ist dieser Verlust dem der beiden vorhergegangenen zusammengenommen gleich, also 90 000 fr.
c) Die Gemeinde Gau-Algesheim hat während der Jahre 1814 und 1815 an außerordentlichen Steuern zahlen müssen 3 595,39 fr.
d) Dieselbe hat vom 1. Januar bis 14. Juni 1814 an hier einquartierte Truppen für Verpflegung, gelieferte Fourage und sonstige Gegenstände laut eingeschickten Nachweisen abgegeben an Betrag von 54 612,02 fr.
e) Sie hat während der Jahre 1814 und 1815 in die öffentlichen Magazine laut Nachweisen abgeliefert den Betrag von 9 269,78 fr.
f) Zufolge bestehender Nachweise und Fuhrfronden-Regis-tern hat dieselbe für geleistete Kriegsfuhren vom 1. Januar 1814 bis 1. Nov.1815 nach dem festgesetzten geringen Tarif gerechnet, zu fordern 9 444,80 fr.
g) Nach Abzug der unter d) bemerkten Einquartierung hat hiesige Gemeinde vom 15. Januar 1814 bis 1. Februar 1816, 83 032 Mann, jeden zu einem Tag gerechnet, in Quartier gehabt, und zum Teil ganz oder auch nur in so weit gepflegt, daß die Quartierträger die, aber bei weitem nicht hinreichenden Portionen erhalten haben, daher man auch nur 50 cent. p. Mann rechnet, obgleich zur Zeit des Durchmarsches der Russen und Preußen, die ihre Lebensmittel aus den Magazinen bezogen, die Forensen ihren Hofleuten, nebst Überlassung derselben für Verpflegung eines Mannes annoch täglich 48 kr.oder 1 fr. 72 c. bezahlen müssen, jedoch in dem nur äußerst geringen Anschlag von 50 cent, trägt 41 516,00 fr.
Zusammen 333 437,99 fr.
Die Gemeinde hat auf Militärverpflegung erhalten 11 119,80 fr. Bleibt noch 321 318,19 fr. Nach dieser allgemeinen Darstellung glaubt Bürgermeister und Gemeinderat von den wohlthätigen Absichten und der Gerechtigkeitsliebe der Großh. Regierungskommission er-warten zu dürfen, daß man die traurige Lage der Einwohner von Gau-Algesheim berück-sichtigen und die Sache dahin einleiten werde, daß ihnen vom höchsten Orte eine Erleichterung, auf welche Art es auch sei, zu Teil werden möge.
Eickemayer.
Voos. Dengler. Jakob Metz.
Franz Weiner. Beck. Ewen.
Die Gau-Algesheimer Jakobiner und ihr Schicksal 1792-1794
(Erich Hinkel) - Es sind mehr als 200 Jahre her, daß auf deutschem Boden erste Versuche mit der Demokratie unternommen wurden. Diese Versuche wurden in der Vergangenheit aus den verschiedensten Gründen verschwiegen, entstellt, falsch bewertet, einseitig dargestellt - ja, selbst heute, in einer Zeit, in der soviel von Freiheit und Demokratie geredet wird, sind die Ereignisse der Jahre 1792/1793 noch nicht in das Bewußtsein der Deutschen gepflanzt worden. Eine Vergangenheit, die bis heute noch nicht bewältigt wurde. Um so mehr erscheint es angebracht, diese ersten Versuche anhand von Ereignissen, wie sie sich in unserer Heimat abgespielt haben, darzustellen. Nach dem Ausbruch der Französischen Revolution flohen die französischen Adligen nach Deutschland und fanden Schutz bei den Kurfürsten von Mainz und Trier. Durch ihr großspuriges Auftreten zogen sie bald den Unmut der Bevölkerung auf sich. Die Kriegserklärung Frankreichs an Österreich vom April 1792 beantworteten die deutschen Fürsten mit dem Manifest des Herzogs von Braunschweig vom 25. Juli 1792, das zur Befreiung des gefangenen französischen Königs aufrief, und marschierten mit vereinten Truppen gegen Frankreich. Auch das Kurfürstentum Mainz blieb nicht neutral, obwohl eine Notwendigkeit zur Teilnahme am Feldzug nicht zu erkennen war.
Anfang Oktober 1792, noch vor dem Einmarsch der Franzosen in Kurmainz, kommt es zu einer großen Steuerverweigerung, als der Kurfürst wegen des Feldzuges die Abgaben vorzeitig einziehen will. Obwohl mehr als 3000 fl. zu zahlen sind, fließen in Gau-Algesheim nur 156 fl. in die Kasse. Dabei spielt die Flucht des Kurfürsten und die Mitnahme der Waisenkasse eine große Rolle. So ist es nicht verwunderlich, daß es beim Einmarsch der Franzosen in Gau-Algesheim zu Verbrüderungsszenen kommt. Die Beamten bleiben im Dienst und ab sofort finden jeden Abend Klubsitzungen statt. Der Schullehrer Körner läßt regelmäßig Flugblätter an die Kinder verteilen und mit deren Hilfe das Lesen üben. Anfang November beschließt der Klub in Mainz, Lehrer aufs Land zu schicken, die die Ideen der Freiheit verbreiten sollen. Mehrmals erscheinen in Gau-Algesheim die Kommissare Bittong und Hofmann und halten auf dem Marktplatz und im Gasthaus „Stern“ Freiheitsreden.
Die Anhänger der alten Ordnung bekommen Auftrieb, als sich am Wunderbild erneut eine unerklärliche Begebenheit ereignet. Die Franzosen hatten die Madonna ins Feuer geworfen, in dem sie das Eisen für ihre Hufeisen erhitzen. Die Madonna wird anschließend unversehrt aus der Asche geborgen - für viele ein Fingerzeig Gottes. So schwankt die Stimmung in der Bevölkerung zwischen Zustimmung und Ablehnung, verdeckter Opposition und überlegter Vorsicht hin und her.
Der Freiheitsbaum
Anfang November drängen nun die Franzosen auf die Errichtung eines Freiheitsbaumes. Im Schöffenrat ist man jedoch aus den verschiedensten Gründen dagegen, findet aber einen Kompromiß und beantragte offiziell bei den Franzosen die Genehmigung. So schiebt man die Verantwortung von sich weg. Die Franzosen geben jedoch zur Antwort, daß es „jeder Gemeinde frei stehe'', einen Freiheitsbaum zu setzen; der Schultheiß habe einen Baum im Wald auszusuchen und dafür zu sorgen, daß keine „Verwüstungen vorgehen''. Doch Schultheiß Ewen wirft dieses Schreiben ins Feuer und wartet ab.
Am 16. November wird es den Franzosen zu bunt. Sie setzen den Baum selbst. Er wird mit Hilfe des Amtskellers Hellmandel im Schloßhof zugerichtet; dessen Frau die blau-weiß-roten Bänder näht. Ewen stiftet seine Jakobinermütze. Anschließend werden die Musiker zum Teil zwangsweise aus den Häusern geholt. Einige geben später an, bewußt falsch gespielt zu haben. Nach dem Marsch durch die Straßen wird der Baum unter Abhaltung von Freiheitsreden und Singen der Marseillaise auf dem Marktplatz aufgestellt. Jeder französische Soldat erhält aus der Gemeindekasse einen Thaler zur „Ergötzlichkeit“. Nach der Feierstunde findet auf dem Rathaus Tanzmusik statt, nachdem die Wirte sich geweigert haben, ihre Lokale zur Verfügung zu stellen.
Im Dezember beginnt die Abstimmungskampagne. Die Kommissare Bittong und Hofmann agieren in Gau-Algesheim und halten im „Stern“ patriotische Reden. Am 20. Dezember stimmt Gau-Algesheim ab. 130 Bürger unterschreiben eine Erklärung, wonach sie der seitherigen drückenden Verfassung müde seien und den Schutz der Franzosen erbitten. Nach massiver Agitation und Drohungen unterschreiben am folgenden Tag weitere 71 Bürger.
Ab Januar spitzt sich die Lage zu. Auf Druck der Franzosen werden nun die fälligen Steuern vorzeitig eingezogen. Um die Forderungen der Franzosen zu befriedigen, läßt die Gemeinde am Landgraben die Bäume fällen und das Holz versteigern. Die Bevölkerung weiß aber auch ihre Vorteile aus der Situation zu ziehen. So werden die herrschaftlichen Früchte, das Futterstroh und die Saatgerste an die Bevölkerung weit unter Preis verkauft. Hier sind sich alle einig.
Ab Ende Januar 1793 ist man sich des Sieges der Freiheit nicht mehr so sicher. Als Schultheiß Ewen die alten Hoheitszeichen an den öffentlichen Gebäuden entfernen soll, schmiert er das Wappen am Rathaus mit Lehm zu, mit der Bemerkung, „man weiß nie, wie sich die Zeiten ändern.'' Außerdem kommt es zu einem heftigen Streit zwischen Gerichtsvorsteher Wilhelm Kaiser und Ewen, als Kaiser sein neues Gerichtssiegel mit den Symbolen der Freiheit und der Republik an Ewens Faß anbringen will. Ewen bugsiert Kaiser aus der Wirtsstube und ruft hinterher: „An meinem Eigentum hört die Freiheit auf!''
Nach der Hinrichtung des französischen Königs am 21. Januar 1793 kommen die neuen Pariser Kommissare Simone und Grégoire nach Mainz, die mit der Umsetzung der französischen Politik beauftragt sind. Der Rhein soll endgültig die französische Grenze werden. Die Klubsitzungen werden nun immer weniger besucht und der Widerstand in der Bevölkerung wächst.
Nach der Verhängung des Belagerungszustandes über Mainz am 10. Februar verkündet General Custine, daß sich alle Bewohner vor der Urwahl vom Kurfürsten als weltlichen Herrscher loszusagen hätten. Außerdem müßten alle Privilegierten auf ihre Vorrechte verzichten.
Am 24. Februar 1793 werden die Dromersheimer Nichtschwörer und der Ockenheimer Pfarrer unter Bedeckung durch Gau-Algesheim geführt. Wilhelm Kaiser protestiert öffentlich gegen diese Maßnahme. Ein Tag später flüchten Pfarrer Leiden und Kaplan Weidner in den Rheingau. Zuvor übergeben sie dem Klubisten Körner die Kultgeräte zur Verwahrung und beauftragen ihn, während ihrer Abwesenheit Betstunden zu halten. Dies kann als ein Beweis gelten, daß es sich bei den Klubisten in Gau-Algesheim durchweg um redliche Leute handelte und die Bande innerhalb der Bevölkerung nicht vollständig zerrissen waren.
Trotz Drängens der Kommissare Ritz und Bittong findet die Urwahl erst am 7. März statt. Zuvor haben die Franzosengegner, die sich bis nachts um drei Uhr Mut angetrunken haben, den Freiheitsbaum auf dem Marktplatz abgesägt. Dieses tolle Wagestück kann nicht ohne Folgen bleiben. Das Gericht unter dem Vorsitz des Wilhelm Kaiser bestraft Johann Deister, Theobald Maus und den Wirt Reissert zu einen bzw. drei Gulden Geldstrafe. Bei der Gerichtsverhandlung kommt es zu einer Schlägerei unter den Beteiligten, wobei sich besonders Theobald Maus und der Klubist Heinrich Kaiser hervortun. Die Protokolle sagen eindeutig aus, daß man durch die Bestrafung lediglich die Franzosen besänftigen wollte. Als nun diese das Geld nicht annehmen, werden die Strafgelder an die Betroffenen wieder zurückgezahlt. Vorher zieht man natürlich die Gerichtskosten ab. Interessant ist noch, daß man die Übeltäter nicht wegen Sachbeschädigung oder Verunglimpfung von Hoheitszeichen bestraft, sondern wegen Überschreitens der Polizeistunde.
Auch bei der Urwahl am 7. März 1793 kommt es zu Tumulten. Die Franzosen beschuldigen die Wahlkommission des Wahlbetruges. Schließlich gehen aus der Wahl Lorenz Saala als Prokurator und Wilhelm Kaiser als Vorsteher der Munizipalität hervor. Heinrich Kaiser wird als Deputierter in den Deutsch-Rheinischen Nationalkonvent entsandt.
Das Signal zur Klubistenverfolgung
Nach einer Prüfung der Abrechnung der Amtskellerei durch Merlin Thionville flüchtet der Amtskeller in den Rheingau, weil offensichtlich einige Ungereimtheiten festgestellt wurden. Am Karfreitag, den 29. März 1793, gibt der Mainzer Kurfürst dem Algesheimer Amt folgenden Befehl: „Dem C. Amt Algesheim wird auf seinem in Betracht der im Algesheimer Amt noch unarrestiert befindlichen Clubbisten anhero instato Bericht zur Entschließung erteilt. daß derselbe unmittelbar die in seinem Amt oder Nachbarschaft befindlichen königl. Preußische Commandos um Arretierung der Clubbisten zu requirieren haben. Unter diesen gehörig vorzüglich Wilhelm Kaiser. Die Arrestanten sind hiernach zum Teil nach Rüdesheim und zum Teil nach Eltville in dasigen Gewahrsam transportieren zu lassen, das sämtliche Vermögen mit Arrest zu bestricken und das Vermögen zu untersuchen und unter Siegel zu legen.“
Am selben Tag rücken die Preußen in der Stadt ein. Lediglich einige Franzosengegner begrüßen sie. Kaplan Weidner kehrt mit ihnen zurück und prüft sofort die Schulkinder, die am Ostersonntag die Erste Hl. Kommunion empfangen sollen. Bis auf einige wenige bestehen die Kinder die Prüfung. Dabei wird der Klubist Körner wegen seiner guten Arbeit als Lehrer gelobt. Beim Festgottesdienst, der nun auch als Dankgottesdienst für die Befreiung gestaltet werden soll, geschieht etwas Unerhörtes. Beim Zeigen des Allerheiligsten intoniert Lehrer Körner auf der Orgel die Marseillaise. Dies ist der klangvolle Abgang der Gau-Algesheimer Klubisten. Die Franzosengegner aber haben nichts Eiligeres zu tun, als die Klubisten zu denunzieren. Der Amtskeller Hellmandel preßt in Gruppenverhören und unter Androhung von Gewalt die entsprechenden Geständnisse aus Angeklagten und Zeugen. Am 30. April wird Wilhelm Kaiser, ein in Gau-Algesheim angesehener Kirchenrechner, Unterschultheiß, Zehntinspektor und Gerichtsvorsteher, mit weiteren acht Gau-Algesheimern gemäß der Verfügung des Kurfürsten von den Preußen verhaftet und in Rüdesheim in die Brömserburg eingekerkert.
Der Prozeß gegen die Gau-Algesheimer Jakobiner
Die Anklageschrift nennt u.a. folgende Punkte: „Setzung des Freiheitsbaumes, Mitgliedschaft im Algesheimer Klub, Beredung der Bevölkerung zur Urversammlung und zum Schwur auf die französische Konstitution, Verkauf der herrschaftlichen Früchte, Bestrafung Algesheimer Bürger, weil sie den Freiheitsbaum abgesägt hatten, Abfassung einer Dankadresse an den französischen General Custine, Verfertigung eines neuen Gerichtssiegels und öffentliche Behauptung, der Kurfürst sei mit seinem Geld davongelaufen.“
Die Gau-Algesheimer Jakobiner schmachten unter schwierigsten Haftbedingungen bis Ende 1794. Es ist dem Untersuchungsrichter, Hofrat Johann Georg von Engelhardt, zu verdanken, daß die Inhaftierten an Weihnachten 1794 wieder zu Hause sein können.
Die Angeklagten werden nie verurteilt. Sie müssen mehr als 20 Monate büßen, nur weil sie für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und mehr Menschenrechte gefochten haben. Über den Vorwurf, daß Kaiser die Bevölkerung in Algesheim zum Schwören überredet haben soll, schreibt Hofrat Engelhardt: „Das Denuntiatum ist an sich unbedeutend, denn es ist schon mehrere male von mehreren H(erren) Referenten gründlich ausgeführt, daß jemand andere zum Schwören bereden konnte, und den Umständen nach sich hierzu verbunden glaubte, ohne dadurch Anhänglichkeit an die franz. Constitution zu zeigen. Zudem ist der einzige, der dem Wilhelm Kaiser diese Beredung zum Schwören aufbürden will, der Johann Deister, ein Mann, der, wie man noch erkennen wird, eher ein Verbrecher und Revolutionär ist, als alle anderen.“
Zu dem Anklagepunkt, daß Kaiser die herrschaftliche Schafsweide verpachtet hatte, macht Engelhardt nur die folgende kurze Anmerkung: „Offenbar scheint mir die Denuntiation Bosheit zu sein; sie hat nicht nur keine Verbindung mit der Revolution, sondern ... Kaiser(s) Schafsweidenverpachtung zielt auf den Nutzen der Gemeinde.“
Hinsichtlich Bestrafung der fünf Gau-Algesheimer Bürger, die eines Nachts den Freiheitsbaum abgesägt hatten, führte der Untersuchungsrichter u.a. aus:
„1) Daß Wilhelm Kaiser die Nachtgäste, welche gegen 3 Uhr im Wirtshaus zechten, nicht allein und aus eigener Autorität, sondern von Gerichtswegen und nach zusammengerufenen Gerichtspersonen untersuchte. Hergestellt ist durch einstimmige Aussagen, daß die Franzosen über die Absägung des Freiheitsbaumes sehr aufgebracht, und wie rasend waren. Es war schon ein schlechtes Wagestück, diese Absägung des Baumes, den Franzosen als Überwinder in dem okkupierten Orte Algesheim aufgerichtet hatten, und die übelsten Folgen hätten aus dieser dummdreisten Handlung für den ganzen Ort entstehen können und müssen, wenn Kaiser und Gericht die Untersuchung nicht mit Ernst angestellt hätten. Es war ein Glück für AIgesheim sowohl als bei diesem Vorfalle insbesondere, daß Kaiser die Franzosen gut zu behandeln wußte und wie alle Zeugen sagen, sie auf alle Art zu besänftigen suchte. Ich finde also in dieser vom Feinde und Sieger verlangten, auch rechtlich begründeten Untersuchung nichts, was dem Kaiser und übrigen Gerichte zur Last fallen könnte.
3) Daß Kaiser und Gericht, denn dieses hat bei dieser Geschichte immer zusammengewirkt, die geringen Strafgelder den Franzosen zur Besänftigung und Satification angeboten haben, war gewiß zweckmäßige Klugheit; daß dies aber solches nachher, als die Franzosen das Geld nicht annahmen, nach Abzug der Untersuchungsgebaren, teils wieder zurückgaben, teils nach Aussagen des Bürgermeisters zur gemeinen Rechnung anwiesen, war Gutheit und Rechtschaffenheit, die eher zu beloben als zu tadeln ist. (...)
6) Es zeigt gewiß eher Gutmütigkeit als Rachsucht, daß diesem ungeachtet Kaiser nach allgemeiner Aussage den Maus aus den Händen der Franzosen, die ihn als Gefangenen abfahren wollten, zu retten sich alle Mühe und sogar noch das Zeugnis eines ehrlichen Mannes gab.
Aus allem diesem erhellt, daß auf dem Wilhelm Kaiser hierunter nichts zur Last liegt, wohl nur eine niedrige Kabale versteckt ist, wovon so, wie von den falschen Denuntiationen und unrichtigen Algesheimer Protocollen seiner Zeit, das weitere vortragen wird. Gegenwärtig absolviere ich Wilh. Kaiser von dem Imputato.“
Auch von der Verfertigung einer Dankadresse an die Franzosen sprach Engelhardt den Kaiser frei, weil der selbst verdächtige Denunziant Johann Deister keine genauen Angaben zum Inhalt der Dankadresse machen konnte.
Ebenso wurde die Anklage, ein neues Gerichtssiegel eingeführt zu haben, mit dem Hinweis auf die generelle Abschaffung aller Symbole, die an den Kurstaat erinnerten, abgewiesen.
Zum Anklagepunkt, daß Kaiser geäußert habe, der Kurfürst sei mit seinem Geld davongelaufen, stellte Engelhardt kühn fest: „Was ist sträflich an er Sache? Schließlich ist Churfstl. Reg. mit allen Geldern geflüchtet. Mithin inculpatus est absolvendus. (Der Angeklagte ist freizusprechen).“
Diesbezüglich entschuldigt sich Kaiser damit, daß er als Zehntinspektor 600 fl. beim Kurfürsten hinterlegen mußte und dieser nun das Geld mitgenommen habe.
Engelhardt folgert schließlich: „Aus den bisher angeführten Punkten besteht das ganze Verbrechen des Kaisers, welches ich jedoch in allen Punkten zusammengenommen nicht finde. Ich sehe vielmehr allenthalben falsche Denuntiation, unrichtige und der Falschheit verdächtige Algesheimer Protocolle und schleichenden Verfolgungsgeist. Kaiser als 60jähriger Mann ist nun über ein Jahr und Tag außer seinem Wohnorte, von seiner Familie getrennt, zum Nachteil seines Hauswesens, und mit schweren Kosten in Untersuchung und Arrest; auch sein ganzes Vermögen ist bekümmert. Nach meiner Empfindung ist diese Handlung seiner Feinde und Verfolger unverantwortlich. Gegenwärtig ist es hohe Zeit, den Mann und sein Vermögen frei zu lassen. Ich absolviere ihn wenigstens völlig und abstrahiere auch zur Zeit von Kostenzahlung und bin geneigt, demselben, wenn er, wie zu vermuten ist, auf Satification klagt, solche vorzubehalten.“
Das Untersuchungsprotokoll gipfelt in den Schlußsätzen: „Mir scheint unverantwortlich, dem gemeinen Landmann mehr zumuten zu wollen, als man selbst nicht leisten konnte. Aus der allgemeinen Revolutionsgeschichte ist bekannt, daß die Beamten der okkupierten Staaten in und außerhalb der Stadt der Gewalt nachzugeben und so sehr auch an deutschen Nation und Lehnsherrschaft anhängig waren, die Befehle der Franzosen ohne Verletzung der Treue befolgen mußten“.
Trotz dieser eindeutigen Voten und mehrerer Gnadengesuche ihrer Angehörigen und vieler Gau-Algesheimer Einwohner gibt Kanzler Franz Joseph von Albini erst im Dezember 1794 den Befehl zur Freilassung der Klubisten. Ein Urteil wird nie gesprochen. So waren sie mehr als 20 Monate unschuldig eingekerkert, weil sie für die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eingetreten waren.
Literaturhinweise
- Erich Hinkel, Gau-Algesheim und die Mainzer Republik. Eine Reportage aus den Jahren 1792/93, Beiträge zur Geschichte des Gau-Algesheimer Raumes, 18/1986
- Erich Hinkel, Gau-Algesheimer Jakobiner. 222 Tage Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit, Heimatjahrbuch Landkreis Mainz-Bingen, 1987, 47-50; auch: Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, 1999, S. 54-59
- Erich Hinkel, 1793 - Das Ende der Mainzer Republik und der Beginn der Klubistenverfolgung, Heimatjahrbuch Landkreis Mainz-Bingen, 1993, 52-54