Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

Der Text der Gemeindeordnung vom 15. Juli 1417

Das Gerichtsurteil als Gemeindeordnung ist in der Zusammenstellung von Quellen zur Geschichte der Stadt zu finden.

Erläuterungen von Dr. Sigrid Schmitt (heute: Prof. Dr. Sigrid Hirbodian) im Gau-Algesheimer Historischen Lesebuch,1999, S. 30-33

Die Gemeinde-Ordnung vom 15. Juli 1417

Am 15. Juli 1417 nun stellte der Mainzer Erzbischof Johann II. von Nassau die oben abgedruckte und übertragene wichtige Urkunde für Gau-Algesheim aus. In ihr heißt es gleich am Anfang: „Als von solicher spenne und zweyunge wegen, die etwie viel zijt in unserm dorff Algesheim gewest sint zwuschen den scheffen und den gesworn uff eyne und der gemeinde da selbst uff die andere sijte...“ Es ging also um die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Schöffen und Geschworenen einerseits sowie der Gemeinde andererseits durch den Erzbischof als Schiedsrichter. Aber von diesem Streit einmal abgesehen, auf den später noch einmal zurückzukommen sein wird: wie kommt der Mainzer Erzbischof dazu, von seinem „Dorf“ Gau-Algesheim zu sprechen? Und warum nennt er Schöffen und Geschworene nicht so, wie es ihnen seit rund hundert Jahren zusteht, nämlich „Stadtrat“? Hat er etwa vergessen, daß seine beiden Vorgänger Balduin und Heinrich mit viel Mühe und Geld zwei Stadtrechtsprivilegien für dieses „Dorf“ bei den Kaisern erwirkt haben? Wohl kaum! Ein solches kaiserliches Privileg geriet einfach nicht in Vergessenheit - noch heute weiß ja jedes Kind in Gau-Algesheim davon und das war im Mittelalter gewiß nicht anders! Der Erzbischof muß die Bezeichnung „Dorf“ ganz bewußt gebraucht haben, obwohl er genau wußte, daß er es hier eigentlich mit einer Stadt zu tun hatte. Warum?

Stadtgründungen und territoriale Entwicklung

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir uns ein wenig genauer mit der Verfassungs- und Rechtsgeschichte des späten Mittelalters befassen. Es ist die Zeit, in der Fürsten, Grafen und Herren allenthalben damit beginnen, ihre Macht- und Einflußgebiete zu Territorien auszubauen, die im Sinne eines neuzeitlichen Staates organisiert werden sollen: mit fest umschriebenen Grenzen nach außen und mit einer klar hierarchisch gegliederten, einheitlichen Verwaltung und Regierung im Innern. Um die jahrhundertelangen Kämpfe und Streitigkeiten, die diese Herren führten, um ihre Machtgebiete gegeneinander abzugrenzen, brauchen wir uns hier nicht weiter zu kümmern, da Gau-Algesheim bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts unangefochten der Herrschaft des Mainzer Erzbischofs unterstand. Zuwenden müssen wir uns aber der Frage nach dem inneren Ausbau der entstehenden Territorien, denn genau in diesem Zusammenhang ist die Antwort auf die gestellte Frage zu suchen.

Zur Zeit der meisten Städtegründungen im 13. und 14. Jahrhundert bestand die Zielsetzung der Herren, die Städte gründeten oder ihre Dörfer per Privileg zu Städten machen ließen vor allem darin, neue Wirtschafts-, Militär- und Verwaltungszentren zu schaffen. Dabei ging es ihnen vor allem darum, finanziellen oder militärischen Gewinn zu erzielen. Wie die Städte in ihrem Innern strukturiert und verwaltet wurden, war den Herren zunächst einmal gleichgültig, solange nur die geforderten Dienste und Abgaben erbracht wurden. Im Gegenteil: da sie noch nicht über entsprechende Verwaltungs- und Regierungsorgane verfügten, waren sie sogar darauf angewiesen, daß die Gemeinwesen sich selbständig organisierten und dafür sorgten, daß das tägliche Leben reibungslos funktionierte.

Städtische Selbstverwaltung und Interessen des Stadtherrn

Die Städte ihrerseits hatten wie jede mittelalterliche Gemeinschaft das Bestreben, ihre eigenen Angelegenheiten auch selbst zu regeln. Nur das Gericht war stets vom Stadtherren dominiert, es tagte unter der Leitung des von ihm eingesetzten Schultheißen und die Schöffen, die für die Urteilsfindung zuständig waren, wurden auf ihn vereidigt. Daneben aber bildeten sich eigene, vom Stadtherrn unabhängige Gemeindeorgane heraus, denen mit dem Wachstum der Stadt auch immer weitere Aufgaben und Kompetenzen zufielen. In Gau-Algesheim hatte sich so offenbar das Gremium der Geschworenen entwickelt, das zusammen mit den Schöffen den Stadtrat bildete. An dessen Spitze standen die Bürgermeister, die vor allem für die Umlage der Steuern (das waren zu dieser Zeit vor allem die Bede und später zudem die sog. Schatzung) und die Finanzen der Stadt verantwortlich waren.

Die weitgehende Unabhängigkeit Gau-Algesheims von herrschaftlichen Eingriffen in die inneren Angelegenheiten wurde noch dadurch verstärkt, daß die Stadt im 14. Jahrhundert zeitweise verpfändet war. Das bedeutete, daß der jeweilige Pfandherr ausschließlich an den Einkünften, also den Steuern interessiert war, nicht aber etwa daran, wie die Stadt diese Steuern aufbrachte oder wie sie sie auf ihre Bürger umlegte. Hinzu kommt die enge historische Verbundenheit Gau-Algesheims mit dem Rheingau. Im Rheingau hatte die auch andernorts übliche innere Selbstverwaltung der Kommunen eine besondere Qualität erreicht, die man allgemein mit dem Stichwort der Rheingauer Freiheiten umschreibt.

Die innere Unabhängigkeit der Städte führte aber gelegentlich dazu, daß sie auch in anderer Hinsicht von ihren Herren frei sein wollten, etwa indem sie ihre Abgaben nur noch widerwillig oder gar nicht mehr leisteten. Dies konnten die Fürsten z.B. am Verhalten der zahlreichen Reichsstädte ihrem Stadtherrn, dem König, gegenüber allenthalben beobachten. Außerdem erkannten die Fürsten allmählich, daß sich durch eine straffere Verwaltung im Innern ihres Territoriums unter anderem der Ertrag aus Steuern um ein Vielfaches steigern ließ.

Bildung von Ämtern

So gingen denn auch die Mainzer Erzbischöfe im 14. Jahrhundert daran, ihr Land in kleinere, effektivere Verwaltungseinheiten zu unterteilen, in die sogenannten Ämter. Zu Ende dieses Jahrhunderts läßt sich zum ersten mal auch in Gau-Algesheim ein eigener Amtmann, der Landschreiber, nachweisen, der im Auftrag des Erzbischofs von hier aus die Orte Ockenheim, Gau-Bickelheim, Dromersheim und Gau-Algesheim verwalten sollte (später kamen noch weitere Dörfer zu diesem Amt hinzu). Neben dem Gerichtsschultheißen gab es nun also einen weiteren Beauftragten des Erzbischofs im Ort, der zunächst aber auf die inneren Belange der Stadt keinen Einfluß hatte.

Die neue Ordnung

Dies genau änderte sich nun aber im Jahr 1417: Der Erzbischof nutzte seine Rolle als Schiedsrichter im Streit zwischen Stadtrat und Stadtgemeinde - es war dabei in erster Linie um die Versorgungsansprüche ehemaliger Geschworener gegangen - um endlich seinem Amtmann Zugriff auf die innere Verwaltung der Stadt zu verschaffen. Sieht man sich die neue Ordnung, die der Erzbischof der Stadt als Ergebnis seiner Streitschlichtung vorschrieb, darauf hin einmal an, so erkennt man, daß der Amtmann darin tatsächlich eine zentrale Position erhielt:

1. Bei der Wahl der Geschworenen durch die Gemeinde (deren Zahl nun definitiv auf sieben festgelegt wurde und die jeweils auf 2 Jahre gewählt wurden, wobei stets im ersten Jahr drei, im folgenden zwei ausgetauscht wurden), muß der Landschreiber nicht nur anwesend sein, seine Zustimmung zu den gewählten Personen ist sogar ausdrücklich erforderlich. Als wichtigste Aufgabe der Geschworenen nennt die Ordnung die Umlage der an den Erzbischof zu zahlenden Steuern, der Bede, auf die einzelnen Gemeindemitglieder.

2. Bei der jährlichen Wahl der Bürgermeister hat der Landschreiber ein entscheidendes Wort mitzureden. Wir wissen nicht genau, wie diese Wahl vor 1417 vonstatten ging, können aber vermuten, daß wie in vergleichbaren Orten ein Bürgermeister vom Rat und einer von der Gemeinde gewählt wurde. In der neuen Ordnung von 1417 dagegen ist der Landschreiber derjenige, der allein über die Person des zweiten Bürgermeisters bestimmt. Die Bürgermeister als Vorsitzende des Rates sind nach Aussage der Ordnung für die Erhebung der Steuern zuständig und müssen darüber sowie über die sonstigen Ein- und Ausgaben der Stadt Rechnung legen.

3. Gab es bisher zwei „Haingereder“ in Gau-Algesheim, nämlich einen, der von Adel und Geistlichkeit und einen, der von der übrigen Gemeinde gewählt wurde, so soll es künftig einen dritten geben, über den ebenfalls allein der Landschreiber zu bestimmen hat. Diese Haingereder waren die Vorsitzenden des sog. Hein- oder Haingerichts, das in allen Fragen, die die Flur- und Allmendeverwaltung betrafen, zu entscheiden und Verstöße gegen die Nutzungsordnung (die sog. Einungen) zu bestrafen hatte. Die Rechnung der Haingereder hatte nach der neuen Ordnung vor dem Landschreiber, den Geschworenen und einer weiteren Person, die wiederum vom Landschreiber bestimmt wurde, zu erfolgen.

4. Auch bei der Wahl der „Unterkäufer und Uffstößer“ soll der Landschreiber persönlich anwesend sein. Es handelt sich hierbei wohl um die andernorts auch Schröter und Weinstecher genannten Amtsinhaber, die beim Verkauf und Verladen von Wein an auswärtige Händler eine wichtige Rolle spielen.

5. Am deutlichsten aber zeigt sich die Kontroll- und Aufsichtsfunktion des Landschreibers im folgenden Artikel: der Stadtrat darf nicht tagen und natürlich auch nichts beschließen, wenn der Landschreiber nicht persönlich anwesend ist oder wenigstens einen Vertreter bestimmt hat.

6. Der Stadtrat und die Gemeinde dürfen die vom Erzbischof gesetzte Ordnung nicht verändern und

7. sie dürfen nicht einmal einen neuen Schreiber einstellen ohne Zustimmung des Landschreibers.

Keine wichtige Entscheidung in Gau-Algesheim konnte also künftig am vom Erzbischof eingesetzten Landschreiber vorbei oder gar ohne dessen Wissen getroffen werden. Die wichtigste der städtischen Freiheiten des Mittelalters, das Recht, über die inneren Belange selbst zu bestimmen, war Gau-Algesheim damit entzogen. Nun wird auch einsichtig, warum der Erzbischof von seinem „Dorf“ Gau-Algesheim spricht und den Stadtrat nicht beim Namen nennt: es waren ja gerade nicht die städtischen Freiheitsrechte, wie sie Gau-Algesheim mit der Übertragung des Frankfurter Rechts verbrieft bekommen hatte, die er hier beurkunden wollte, sondern das Gegenteil: Gau-Algesheim sollte wie jedes andere Dorf des Amtes den Eingriffen und der Kontrolle des Amtmannes offenstehen.

Der Widerspenstigen Zähmung

Die Gau-Algesheimer, vor allem wohl die soziale Oberschicht, die bisher das Sagen in der Stadt gehabt hatte, merkten natürlich ganz genau, was hier gespielt wurde. Sie setzten sich nach Kräften gegen diese Eingriffe in ihre hergebrachten Freiheiten zur Wehr. Sie betonten vor allem ihre Zugehörigkeit zum Rheingau und pochten auf die damit verbundenen Sonderrechte. Ja, im Bauernkrieg des Jahres 1525 (der zugleich auch ein Aufstand der Stadtbürger war) waren sie sogar bereit, an der Seite der Rheingauer für diese Freiheiten zu kämpfen - übrigens mit Ausnahme von Bingen und Mainz als einzige Kurmainzer Gemeinde auf der linken Rheinseite. Mit der Niederlage im Bauernkrieg kam aber auch für Gau-Algesheim das endgültige Aus für seine alten Freiheiten. Die Stadt wurde vom freiheitsliebenden Rheingau losgetrennt und in Zukunft mit dem politisch weit zuverlässigeren Nieder-Olm zusammen verwaltet. Das Amt Algesheim fungierte fortan nur noch als Unterbezirk des Amtes Olm.

Die Gemeindeordnung von 1417 war, wenn man es so betrachtet, der Anfang vom Ende der städtischen Freiheiten der Algesheimer. Indem der Mainzer Amtmann das Sagen bekam und nicht mehr der Stadtrat, war für den Erzbischof der Weg frei, die inneren Verhältnisse der Stadt in seinem Sinne zu ordnen, indem er z.B. neue und höhere Steuern einführen, die Wirtschaft der Stadt oder auch den Lebenswandel der Bürger kontrollieren und reglementieren konnte. Die „Zähmung“ der Gau-Algesheimer war somit ein Schritt auf dem Weg in den absolutistischen Staat der Neuzeit: nicht mehr die individuellen Freiheiten und Rechte jeder Stadt und jedes Dorfes, ihr altes Recht und Herkommen waren maßgebend, sondern der Wille des Fürsten und seiner Regierung. Aus dem vielfältigen und bunten Gebilde der mittelalterlichen Personen- und Herrschaftsverbände wurde ein verhältnismäßig einheitliches Fürstentum mit einer regierenden Obrigkeit und gehorsamen Untertanen.

Daß die Gau-Algesheimer diesem Weg eine ganze Zeitlang unbequem und selbstbewußt entgegentraten, sollte auch den heutigen Bürgern Mut machen, sich für ihre Rechte und die ihrer Mitbürger einzusetzen.