Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

Fassenacht in Narragonien

Von Martin Hassemer (1912-1985)

Mit Pauken und Trompeten zieht in den ersten Wochen jeden neuen Jahres ein imaginärer „Prinz“ in nahezu allen Städten und Dörfern der „Rheinischen Narrenstraße“ ein. Sein romantisches Reich „Narragonien“ ist utopisch, und seine Würdenträger und Vasallen hat noch keiner gezählt. Bunt sind die Farben seiner Standarten, und die phantastischen Uniformen seiner Garden und Musikanten sind mit schillernden Orden und klingenden Schellen übersät. So prachtvoll jedoch die Aufmärsche, so glänzend die Empfänge und so wortgewaltig die Reden am Hofe „Seiner Tollität“ auch sein mögen - am Aschermittwoch fällt nach alter Zunft und Sitte alle Macht und Herrlichkeit dieses verlockenden Staatsgepräges jäh und schmerzlos wieder in sich zusammen.

Man muß wohl in den Stammlanden dieses zauberhaften Prinzen geboren oder ihnen lange Zeit verhaftet sein, um die Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit zu begreifen, mit denen sich „Närrinnen“ und „Narren“ ohne Unterschied von Stand und Alter den fröhlichen „Kampagnen“ immer wieder bereitwillig hingeben. Und wer ihre Begeisterung allein mit kühlem Verstand oder mit dem Rechenstift eines geschäftstüchtigen Managers begründen wollte, wurde gewiß Wesentliches übersehen.

Vielfalt des närrischen Treibens

Natürlich vollzieht sich dieses närrische Treiben nicht in allen Gegenden gleichartig. Schon seine Bezeichnungen, angefangen bei den nordwestlichen Regionen mit Hochburgen wie Köln, Düsseldorf oder Aachen entlang dem Mittelrhein mit Mainz, bis hinunter nach München und darüber hinaus, deuten auf wesentliche Unterschiede nach Inhalt und Form hin. Diese Vielfalt ist auch verständlich, wenn man bedenkt, daß närrisches Brauchtum, ähnlich wie viele andere Traditionen, seinen natürlichen Ursprung in der Geschichte der engeren Heimat und der Mentalität ihrer Menschen hat. Gemeinsam haben Landschaften, in denen närrische Sitten gepflegt werden, eigentlich nur die mehr oder weniger umfangreichen Maskenumzüge an den Fastnachtstagen. Ehe wir uns daher mit dem Narrentum unserer rheinhessischen Landschaft beschäftigen, sollten wir einen kurzen Blick auf die Gewohnheiten anderer närrischer Regionen werfen: So veranstalteten die „Jecken“ des Kölner „Karnevals“ ähnlich wie die Korporationen im Südwesten ebenfalls närrische Sitzungen, deren Büttenreden unter dem Protekorat des dort heimischen „Dreigestirns Prinz, Bauer und Jungfrau“ allerdings eher dem aktuellen, meist bodenständigen Mutterwitz als politischen Themen den Vorzug geben. Dazu gehören die jährlich neu herausgebrachten Karnevalsschlager, deren zündende Texte und Melodien von ihren Dichtern und Komponisten vorgetragen und vom Auditorium begeistert mitgesungen werden. Zum optischen Glanz dieser Veranstaltungen tragen im übrigen die Auftritte der zahlreichen Garden mit ihren „Funken-Mariechen“ und „Tanz-Offizieren“ wesentlich bei.

Anders als im Rheinland ist der Fasching in München mehr ein gesellschaftliches Ereignis, das sich in vielen Varianten und mit oft stattlichem Aufwand auf unzähligen Bällen - nicht selten auch unter dem Einfluß namhafter Künstlergruppen - abspielt Im Mittelpunkt dieser „Redouten“ steht ein populäres und im allgemeinen „betuchtes“ Prinzenpaar, das für jede Saison neu gekürt wird und die Veranstaltungen besonders attraktiv macht. Sitzungen oder Maskenbetrieb im Straßenkarneval wie in anderen Gegenden kennt man in der bayerischen Metropole kaum. In dieser Gegenüberstellung landschaftsgebundener Eigenarten darf die alemannische Fasnet - obwohl sie im allgemeinen weniger propagiert wird, dafür aber um so urwüchsiger ist - nicht vergessen werden, die vor allem im Schwarzwald und am Bodensee bis in die Schweiz hinein zu Hause ist In ihrem Mummenschanz. mit holzgeschnitzten Masken und originellen Tänzen dokumentiert sie deutlicher noch als andere närrische Bereiche ein uraltes Brauchtum mit Hexen- und Zauberspuk.

Ursprung der Fassenacht am Mittelrhein

Betrachten wir nun die Fastnacht (im Volksmund „Fassenacht“) unserer engeren Heimat am Mittelrhein: Ihr Zentrum ist unbestritten das „Goldene Mainz“, dessen Veranstaltungen unter allen närrischen Schauspielen wohl die größte Ausstrahlungskraft im gesamten Bundesgebiet besitzen Die Grunde dafür liegen vor allem in den für unseren Raum charakteristischen Sitzungen, die mit ihren Themen und Typen offenbar auch viele Interessenten außerhalb der näheren Umgebung ansprechen und nun schon seit vielen Jahren mit großem Erfolg durch das Fernsehen weit verbreitet werden.

Bekanntlich geht die besondere Art der Mainzer Büttenreden auf französische Besatzungszeiten zurück, die seit Napoleon in unserer Gegend nicht gerade selten waren Die persönliche Situation der dann meist gegängelten oder gar unterdrückten Bewohner solcher Gebiete war geprägt von der Aufsicht und den Direktiven fremden Militärs, gegen die man sich im allgemeinen weder mit Vernunft noch mit Gewalt wehren konnte. Um ihrem Herzen Luft zu machen und Verständnis und Erleichterungen bei der Besatzung zu erwirken, löckten einzelne oder Gruppen von Mitbürgern gegen den Stachel, indem sie in der Bütt ihre Sorgen und Wünsche in ironisch-humoristischer Verpackung einem breiten Publikum vorstellten Da sie damit bei ihren Zuhörern offene Türen aufstießen und weitgehend die öffentliche Meinung zu beeinflussen vermochten, blieben sie bei der mißtrauischen Obrigkeit nicht unbeachtet Gegen sie einzuschreiten oder sie gar zu maßregeln wäre allerdings im Hinblick auf ihre Beweggründe und ihre Popularität höchst unklug gewesen, so daß solche Büttenreden, von Ausnahmen abgesehen, nicht selten zu Abhilfen und Entspannungen entscheidend beitrugen

Diese geschichtliche Entwicklung der Büttenreden am Mittelrhein kennzeichnet auch heute noch ihren Inhalt und Aufbau und wird im allgemeinen in den Sitzungsprogrammen aller südwestdeutschen Karnevalvereine praktiziert - unabhängig davon, ob die Vorträge im närrischen Dekor oder in Maske dargeboten werden. Die närrische Kritik, die sich im Ursprung gegen die autoritäre Besatzung richtete, orientiert sich natürlich heute vergleichsweise an Maßnahmen der Regierungen und Parlamente, an gesellschaftlichen Entwicklungen oder an öffentlichen Ereignissen, wobei von Fall zu Fall und Ort zu Ort lokale Komponenten eine beachtliche Rolle spielen. Wie immer aber auch närrische Ideen geboren oder dargeboten werden - sie müssen sich, wenn sie die bekannte „Narrenfreiheit“ beanspruchen wollen, zuverlässig einer gemeinsamen Prämisse unterwerfen: Ihr Humor muß echt, befreiend und versöhnlich sein und darf keineswegs ätzen, moralisieren oder gar verletzen.

Die Welt im Narrenspiegel

Dort, wo die Fastnacht auch heute noch ursprünglich und bodenständig gefeiert wird, hat sie auch inmitten einer großen Zahl wirtschaftswunderlicher Attraktionen an Anziehungskraft nichts verloren. Wenn da ein Protokoller unter der Narrenkapp in der Bütt erscheint, geht es nicht einfach um Witze und Anekdoten, die gewöhnlich am Biertisch oder unter „Ansagern“ die Runde machen. Von einem Büttenredner- ob er nun in feierlicher Robe mit wohlgesetzten Versen oder in Maske mit dialektischer Prosa auftritt - erwartet man vielmehr, daß er, indem er „dem Volk auf's Maul schaut“, als heiterer Philosoph in allen Ereignissen, die uns im gewöhnlich tierisch-ernsten Alltag begegnen, dem Schalk nachspürt und ebenso menschliche Unzulänglichkeiten wie sachliche Mängel, die wir sonst schamhaft, überheblich oder respektvoll übersehen, beim Namen nennt. Keineswegs ketzerisch oder gar rachsüchtig, sondern eher nachsichtig und entschuldigend - vor allem aber mit gesundem Mutterwitz und geistvollem Humor! Die Welt im Narrenspiegel sehen und beweisen, daß alles zwei Seiten hat, von denen die erste durchaus nicht immer die angenehmste ist - das ist das einfache Motto für die Bütt!

Dabei sind Betrachtungen, die ein verständnisvolles Schmunzeln auslösen, genauso begehrt, wie Pointen, die mit befreiendem Lachen und Beifallsstürmen quittiert werden. Dies wird besonders deutlich bei gemeinsam gesungenen Liedern mit aktuellen Texten nach alten Fastnachtsweisen oder bei kostümierten Sängern, deren Melodien in Anpassung an die Art ihrer närrischen Ideen vom Volkslied über die Oper bis zum Schlager reichen.

Natürlich weiß das närrische Auditorium sehr genau, daß dieses närrische Traumland nur eine vorübergehende Abkehr von der rauhen Wirklichkeit des Alltags bedeutet. Aber gerade die Gelegenheit, den täglichen Belastungen der nüchternen Geschäftigkeit oder des Berufs einmal kurzweilig zu entschlüpfen, mal zu sagen oder zu hören, was man sonst nicht an die große Glocke hängt, die Welt mal mit „anderen Augen“ zu sehen und den täglichen Sorgen mal ein Schnippchen zu schlagen, übt wohl eine reizvolle Anziehungskraft auf den Menschen aus. Mal Zeit zu haben zum beschaulichen Nachdenken, zur besinnlichen und launigen Kritik an allem, was uns da täglich mehr oder weniger freundlich begegnet, mal froh und unbeschwert zu sein in geselliger Runde - das sind sicher auch Anliegen, die mit Leichtsinn absolut nichts zu tun haben. „Alles zu seiner Zeit“ pflegen die närrischen Trabanten zu sagen, und sie beweisen trotz ihrer unbeschwerten Feste, daß es ihnen auf der ernsten Seite des Lebens an Gewissenhaftigkeit, Sparsamkeit und Verantwortungsbewußtsein genauso wenig mangelt wie anderen - vielleicht gerade deshalb, weil sie mal vorübergehend „abzuschalten“ vermögen.

Amateure und Profis

Bei allem Respekt vor den Leistungen kommerzieller Unterhaltungsbetriebe wird man angesichts dieses typisch landschaftsbezogenen närrischen Spektakels auch heute noch mit Fug und Recht sagen dürfen, daß man seinen Inhalt und seine Atmosphäre nicht ohne weiteres in eine fremde Umgebung oder in ein Studio verpflanzen kann. Aus den gleichen Gründen muß man auch einräumen, daß die Pflege dieser Sitten und Bräuche nicht Aufgabe von Berufsbühnen oder Berufsunterhaltern sein kann, denn es handelt sich um natürlich gewachsene, bodenständige Gepflogenheiten, deren Wesen man verfälscht, wenn man sie dem Einfluß ihrer Heimat und ihrer Menschen entzieht.

Natürlich fragt man sich, ob sich närrische Enthusiasten auch in unserer Zeit noch überall mit der richtigen Einstellung der alten Tradition verpflichtet fühlen. Manche Veranstaltungen lassen leider darauf schließen, daß man den ursprünglichen Sinn dieses Brauchtums selbst in den Reihen aktiver Karnevalisten heute zuweilen übersieht. Dabei ergeben sich denn Programme, von denen Uneingeweihte und Kritiker wohl mit Recht sagen, daß sie vom berufsmäßigen Kabarett weit besser dargeboten werden.

Eine närrische Sitzung sollte trotz des breiten Angebots an anderen und vielleicht zeitgemäßeren Unterhaltungsformen auch heute noch nach Inhalt und Gestaltung so traditionsbewußt und ortsgebunden sein, daß es weder im Fernsehen noch sonstwo Parallelen zu ihr gibt. Ihr äußerer Rahmen, der Ablauf des Programms, die Themen und Masken der Büttenredner und Liederdichter sowie die Art ihrer Darbietungen haben ohnehin keine Vorbilder außerhalb des karnevalistischen Bereichs. Deshalb dürfen auch närrische Sänger und Tänzerinnen nicht dem falschen Ehrgeiz nachhängen, künstlerisch vollendete Leistungen der „professionellen Konkurrenz“ darzubieten, sondern sich vielmehr der Parodie, der Persiflage oder der Groteske zuwenden. So gesehen ist es auch gar nicht verwunderlich, sondern eher selbstverständlich, daß eine närrische Sitzung „Ortsfremden“ zuweilen weniger gut gefällt als „Einheimischen“ - einfach deswegen, weil sie ihnen von ihrem gewohnten Milieu her weniger liegt. Es wäre auch falsch, eine solche Veranstaltung dem Geschmack Fremder anzupassen - etwa deswegen, weil man sich davon ein besseres Geschäft verspricht. Wer es dennoch versucht, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich Veranstalter, denen das Gespür für örtliche Nuancen als eine der wichtigsten Voraussetzungen fehlt, mit närrischen Programmen beschäftigen. Er gerät außerdem selbst in Versuchung, wesensfremde Vorbilder zu plagiieren und seine eigentliche Aufgabe völlig zu verkennen.

In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frage nach der Zukunft närrischer Veranstaltungen überhaupt relevant. „Produktion“ und „Konsum“ auf dem allgemeinen Unterhaltungsmarkt werden bekanntlich von anerkannten Profis und versierten Managern beherrscht und gesteuert, gegenüber denen laienhafte Büttenredner und Liederdichter der Fastnacht hoffnungslos im Rennen zu liegen scheinen. Manche halten es daher nur für logisch und konsequent, auch die Fastnacht künftig denen zu überlassen, die sich von Berufs wegen mit ähnlichen Dingen befassen, und zahlreiche Beobachtungen der letzten Jahre beweisen, daß sich hie und da Rundfunk und Fernsehen vor allem in Gegenden, denen keine fastnachtliche Tradition eigen ist, solcher Programme annehmen. Dieser falschen Entwicklung können unsere Karnevalvereine nur durch eine bewußte Pflege ihrer bewährten Tradition begegnen, weil ihre Aktiven auf ihrem ureigensten Gebiet auch von Berufskünstlern kaum schlagbar sind. Solange sie an den überlieferten Mitteln und Formen der Fastnacht festhalten und je mehr es ihnen gelingt, immer wieder junge Kräfte zur Pflege dieses heimatlichen Brauchtums zu gewinnen, um so weniger werden sie eine im Grunde wesensfremde Konkurrenz zu fürchten haben. Damit wird die Narretei in ihren ursprünglichen Formen auch künftig eine Sache jener bleiben, die sich ihr als Laien mit Lust und Liebe widmen.

Erstveröffentlichung: Hassemer, Martin, Fastnacht am Mittelrhein, Heimatjahrbuch Landkreis Mainz-Bingen, 1976, 56-61