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Judenhass und Menschenfreundlichkeit

Die Geschichte der Juden in Gau-Algesheim ist so alt wie das städtische Leben. Zwei Jahre nach der ersten Stadterhebung durch Kaiser Ludwig den Bayern bezog im Jahre 1334 der Edelknecht Peter Gruel von Bingen als Burglehen zu Klopp zwei Mark Judensteuer von Gau-Algesheim. Für das Jahr 1346 ist ein „Weinberg in dem Judensande“, für 1358, 1397 und 1402 die Begräbnisstätte der Gau-Algesheimer Juden, der „Judenkirchove“, bezeugt (mehr zum Judenfriedhof hier). Zwischen friedlichem Zusammenleben, gerichtlichen Streitigkeiten sowie einem verdeckten oder offenen Antijudaismus spielte sich das Leben von Christen und Juden durch die Jahrhunderte ab.

Erst 1986 hat Pfarrer Dr. Ludwig Hellriegel mit seiner Veröffentlichung „Judaica. Geschichte der Gau-Algesheimer Juden“ einen bisher ausgelassenen Teil der Stadtgeschichte entdeckt. Anlässlich des Volkstrauertages 1986 gedachte die Gemeinde erstmals der jüdischen Opfer der Stadt. Im Innern des Ehrenmals für die Toten der beiden Weltkriege auf dem Alten Friedhof wurde dabei eine von Erich Hinkel und Ludwig Hellriegel initiierte Tafel mit der Aufschrift „Die Stadt Gau-Algesheim gedenkt ihrer jüdischen Mitbürger, die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft wurden“, dem Stadtwappen und dem Davidstern enthüllt. Am 9. November 1988 versammelten sich Gau-Algesheimer Bürger mit den Pfarrern der beiden Kirchengemeinden an der ehemaligen Synagoge in der Querbein, um von dort schweigend zum Judenfriedhof zu ziehen. Zehn Jahre später am 9. November 1998 waren unter den Teilnehmern des Gedenkens erstmals wieder jüdische Bewohner der Stadt.

Neben dem handgeschriebenen Plakat mit dem Text „Juden haben keinen Zutritt“, das 1933 am Ortsschild aus Richtung Ockenheim befestigt worden war, stellt der folgende Artikel „zweifellos das gehässigste Dokument“ (Hellriegel) aus der Ortsgeschichte zwischen 1933 und 1945 dar: Er wurde im Nachrichtenblatt der Gemeinden Gau-Algesheim, Heidesheim und Wackernheim, Bezirksausgabe Gau-Algesheim vom 9. Dezember 1938 veröffentlicht:

„In aller Deutlichkeit: Gut Freundschaft mit Juden? Wie? Gibt es sowas in Gau-Algesheim? Ja, lieber Volksgenosse, so etwas gabs bis vor kurzem hier in unserem Städtchen! Und zwar gab es einen Zeitgenossen aus der Weingasse, welcher mit den erst vor wenigen Tagen von hier verschwundenen Judenweibern Nathan/Mayer und Konsorten gute Freundschaft hielt. Diesem guten Mann lag es scheinbar sehr an einem gut nachbarlichen Einvernehmen mit den Judenweibern. Und wie in den Tagen des ruchlosen Mordes in Paris sich auch hier Bewohner darüber Luft machten und dem Judenhaus einen abendlichen Besuch abstatteten, da fühlte sich dieser Zeitge-nosse in der Nachtruhe gestört. Er fiel mit allerlei Betitelungen über die Ruhestörer her; hatte er doch die Pflicht, auf Grund seiner überaus guten Freundschaft zu den Judenweibern sich als Beschützer dieser aufzuspielen. Daß er bei der Herrichtung der verschobenen Fensterläden behilflich war, das so nebenbei. Aber nicht genug, lieber Volksgenosse: Nachdem die Judenweiber ihre Kisten und Kasten zur Abreise für immer gepackt hatten, fühlte sich der Herr Nachbar bemüßigt, den Judenweibern die Koffer zur Bahn zu bringen. Interessant ist nun dessen Antwort auf die Befragung nach dem Grund seines volksfremden Verhaltens: ‘Es hätte sich ja doch kein anderer hierzu gefunden!’ - Pfui! Man hält es nicht für möglich, daß es noch derartige Leute gibt, die glauben, ohne den Juden nicht auskommen zu können und sich so stellen, als ob sie die ganze Judenfrage überhaupt nichts anginge. Dieser Mann hat es trotzdem getan! Nun treffen ihn die Folgen: Er hat jetzt nicht nur die parteilichen und behördlichen Maßnahmen, sondern auch die öffentliche Verachtung seiner Volksgenossen zu tragen! Wer Juden bedauert und Freundschaft mit ihnen hält, ist ein Lump und Verräter!“

Der in dem Artikel genannte Bürger war der 1888 in Perscheid geborene verwitwete Maschinist Josef Moritz, der in der Weingasse 23 wohnte. Mit seinem 1926 geborenen Sohn Willi fuhr er das Gepäck seiner Nachbarinnen zum Bahnhof. In der Weingasse 25, wo bis 1921 Sigmund Nathan (1838-1925) eine Metzgerei betrieben hatte, lebte zuletzt dessen Witwe Rosa Nathan geb. Marx (1849-1937) mit ihrer Tochter Elisabeth „Betti“ Mayer, die nach dem Tode ihres Mannes Eduard im Jahre 1932 von Frankfurt nach Gau-Algesheim zurückgekehrt war. Rosa Nathan war 1937 gestorben und wohl als letzte Gau-Algesheimerin auf den Judenfriedhof bestattet worden. Betti Mayer meldete sich, nachdem das Haus in der Weingasse im Rahmen der „Arisierung“ zwangsweise verkauft wurde, mit Schreiben vom 6. Januar 1939 aus Gau-Algesheim ab. Es ist zu vermuten, daß es Betti Mayer war, der Josef Moritz zu Hilfe gekommen war. Wer sie begleitete, ist unbekannt. Der Sohn von Betti und Eduard Mayer war der am 29. März 1902 in Frankfurt geborene Leopold Mayer, der sich in der Emigration Leo Maillet nannte. Das künstlerische Werk dieses Malers, hat Erich Hinkel 1994 in einer Ausstellung in der Aula der Christian-Erbach-Schule den interessierten Gau-Algesheimern zugänglich gemacht.

aus: Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, 1999, S. 99f.