Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

Anna Seghers: Agathe Schweigert

Die in Mainz zu Beginn unseres Jahrhunderts als Netty Reiling geborene Schriftstellerin Anna Seghers (1900-1983) veröffentlichte im Jahre 1965 ein Bändchen mit neun Erzählungen unter dem Titel „Die Kraft der Schwachen“. „Agathe Schweigert“, eine dieser Erzählungen, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen spielt, nimmt ihren Anfang in unserer Heimatstadt Gau-Algesheim. Die Menschen und Ereignisse dieser Geschichte, die in der Seghers-Ausgabe des Luchterhand-Verlages von 1977 knapp 16 Seiten umfaßt, sind sicher mit der wechselvollen Lebensgeschichte der Anna Seghers enger verknüpft als mit den Geschehnissen im Gau-Algesheim der ersten Jahrhunderthälfte. Dennoch bleibt interessant, wie die Autorin, die nach Emigration und Exil 1947 in den östlichen Teil Deutschlands zurückgekehrt war, Kindheits- und Jugenderinnerungen ihrer rheinhessischen Heimat lebendig werden läßt: „Eine Frau namens Helene Denhöfer lebte zu Beginn des Jahrhunderts in der kleinen Stadt Algesheim, nicht weit vom Rhein. Sie hatte von ihrem Mann ein Kurzwarengeschäft am Stadtrand geerbt, das sie ausgezeichnet versah mit Hilfe ihrer Tochter Agathe.“ Mit Zuneigung und Realitätssinn öffnet die Schriftstellerin dem Leser die Augen für die kleine Welt der kleinen Leute: „Das Mädchen bediente von klein auf die Kundschaft, sobald es die Schulaufgaben beendet hatte. Die winzige Wohnung lag hinter dem Laden auf den Hof zu. Der Hof war in Gartenvierecke eingeteilt; ihr eigenes zu gießen und zu jäten, war gleichfalls einer der Pflichten des Mädchens. Es hätte wohl sonst noch bläßlicher ausgesehen, noch schwächlicher.“

Die Konturen des kleinen Algesheim zeichnet Anna Seghers so, als habe sich die kleine Netty Reiling bei den Bahnfahrten von Mainz nach Bingen die Nase am Fenster platt gedrückt, um nichts zu verpassen, wenn die Felder und Ortschaften vorbeihuschen: „...mit den Jahren legten sich ein paar neue Straßen um den ursprünglichen Stadtrand. Eine Konservenfabrik war entstanden, ihre Spargel und Erbsen waren bekannt. Bahnlinien berührten Algesheim; das Städtchen erhielt einen neuen Rangierbahnhof. Bald bildeten mehrere Häuserblocks, meistens von Eisenbahnern und Eisenbahnarbeitern bewohnt, ein Anhängsel mehr als einen Vorort.“

In diese noch geordnete Welt bricht nun die organisierte Unordnung ein: der Krieg mit Truppentransporten durch die Rheinebene nach Westen, Soldaten in der Stadt, später Trauer und Hunger, kaum Begeisterung. Helene Denhöfer stirbt an einer Lungenentzündung. „An dem Leben der Tochter war dadurch nicht viel verändert. Die dünne, aber bis in die Todesstunde hartnäckige Stimme der Mutter fehlte ihr abends beim Kassemachen. So sehr glich die schmächtige, zuerst schwarz, dann grau gekleidete Agathe ihrer Mutter, sie war so eifrig und aufmerksam, daß auch die Käufer keine Veränderungen merkten.“ Eines Tages lernt Agathe einen verwitweten Landsturmmann namens Schweigert kennen, den der Krieg zu einem Krüppel gemacht hat: „Er sehnte sich wohl noch immer in seinem Herzen nach etwas Glück. Die Einsamkeit fraß an ihm.“ Beide heiraten, aber Franz Schweigert stirbt bald an den Folgen seiner Verwundung. Agathe Schweigert aber bleiben das Geschäft und ihr Kind, „ein stilles, sauberes Büblein.“

Als Ernst Schweigert heranwächst und sich seine eigene Welt erschließt, taucht er seine Mutter in ein Wechselbad der Gefühle: Besorgnis und Angst, aber auch Freude, wenn der Junge von seinen Abenteuern erzählt oder der Klassenlehrer ihr mitteilt, ihr Sohn sei für die höhere Schule geeignet.

Abitur, Studium in Frankfurt, politisches Engagement, das Leben des Sohnes rückt für Agathe Schweigert immer ferner. Ernst muß plötzlich Deutschland verlassen. Er schreibt seiner Mutter aus Paris, später aus Toulouse. Dann reißt der Kontakt ab. Agathe Schweigert, die nur bei den drei Schulausflügen in ihrer Kindheit Algesheim hinter sich gelassen hatte, faßt einen Entschluß: „Sie hatte sich einen kleinen Handkoffer angeschafft und ihre Ersparnisse abgehoben. Als in Algesheim eine milde Sommernacht endete, die Sterne waren fast verblaßt, und einige Straßen waren noch farblos im Morgengrauen, in den Fensterscheiben am äußersten Stadtrand funkelte schon die Sonne, die über der Rheinebene aufging, verschloß sie ihr Kurzwarengeschäft.“ Sie reist mit dem Zug nach Frankreich, um ihren Sohn aufzuspüren. Sie findet Menschen, die ihren Sohn kannten, sie erfährt, daß er in Spanien in den Internationalen Brigaden für die Republik kämpft. Agathe Schweigert gelingt es, nach Spanien zu kommen; in einem Lazarett erhält sie einen Brief ihres Sohnes, der von ihrer Suche erfahren hatte und sie bittet, den Verwundeten zu helfen: „Sie brauchen ja alle Hände, und Du, Mutter, kannst alles.“ Agathe Schweigert sieht ihren Sohn nie mehr wieder.

Anna Seghers aber beschließt ihre Erzählung mit folgenden Worten: „Im Frühjahr 1941 schlief ich auf einer Antillen-Insel in einer Baracke mit vielen spanischen Frauen. Wir warteten alle auf Schiffe, um in die Länder zu fahren, die uns Asyl versprochen hatten. Die spanischen Frauen sangen oft, sie waren erregt in Leid und Freude, in Sicherheit und Ungewißheit. Unter ihnen saß eine kleine dünne Frau, grau waren ihr Haar und ihr Gesicht, sie sah anders aus als die spanischen Frauen, sie war auch immer stumm. Einmal, als sie einem Kind einen Knopf annähte, entfuhr ihr auf deutsch: 'Halt still!' Ich fragte sie, woher sie stamme, und sie erwiderte: 'Aus dem Rheinland, aus Algesheim.' Wir saßen an diesem Abend lange zusammen. Bald darauf fuhr ich ab. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Hier steht, was ich von ihr weiß.“

ANNA SEGHERS, Agathe Schweigert (1965), Erzählungen Band 2, Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied, 1964, 1966, 1968, 1977, S. 177-192. Aus: Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, 1999, S. 197f.