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Adam Karrillon und Gustav Wallenstein

Im Schuljahr 1868/69 war der Bäckersohn Gustav Wallenstein von der Volksschule Gau-Algesheim in die Tertia des Gymnasiums in Mainz gekommen. Der aus Waldmichelbach stammende Mainzer Arzt und Schriftsteller Adam Karrillon erinnert sich in seiner Autobiographie „Erlebnisse eines Erdenbummlers“ von 1923 an seinen Mitschüler Gustav Wallenstein.

"Indessen war ich schlüssig geworden, daß ich Arzt werden wolle. Unendlich freute ich mich auf die Studentenzeit. Mein Vater hatte mir in verständiger Weise einen Einblick in seine Vermögensverhältnisse gewährt und mich wissen lassen, daß ich nicht allzusehr zu sparen brauche. So zog ich denn guten Mutes gegen Gießen hin. Einige meiner Mainzer Compennäler fand ich dort schon vor, und da diese sich der Burschenschaft angeschlossen hatten, so war es nur natürlich, daß auch ich diesem Bunde beitrat. Der Mann, auf den wir als unseren Führer und besten Fechter viel Vertrauen setzten, hieß Wallenstein. Leider kam ich mit ihm zu einem recht gespannten Verhältnis. Um dies zu erklären, muß ich noch einmal um fünf Jahre zurückgreifen.

Wallenstein war der Sohn eines Bäckers in Gaualgesheim. Er hatte sich zu Hause einige Vorkenntnisse im Lateinischen erworben und war zu uns ins Mainzer Gymnasium gekommen, als wir eben das bellum gallicum des Julius Cäsar zu lesen begannen. Professor Keller stand vor der Klasse und hatte uns in weitschweifiger Weise auseinandergesetzt, daß der Mensch im allgemeinen und der Gymnasiast im besonderen bestimmten Gesetzen unterworfen sei, die unter allen Umständen und unter allen Breitengraden unserer Erde nicht außer acht gelassen werden dürften. Als er mit seiner langatmigen Erklärung endlich fertig war, wandte er sich mit der Frage an Wallenstein: »Nun, du Neuzugetretener, sag' einmal, hast du dich auf die Lektüre des Julius Cäsar gehörig vorbereitet?« Der Aufgerufene bejahte und fing sofort mit lauter Stimme zu lesen an: »Gahlia est omnis divisa in partes tres.« Ein schallendes Gelächter erschütterte die ganze Klasse. Verdutzt hielt der blondgelockte Leser inne. Verwundert sah er sich um mit den wasserblauen Fischaugen. Hatte man ihn zum Besten? Warum lachten die Mitschüler? Die frechen Stadtbuben? Warum schmunzelte sogar der Lehrer selber? Herr Keller fühlte, daß außer ihm kein anderer hier Klarheit schaffen könne, und mit der Hand seinen Striefelbart streichend, begann er würdevoll die folgende Rede: »Nicht wahr, Wallenstein, du findest es unbegreiflich, warum deine Mitschüler lachen. Ich will es dir sagen, wenn du mir versprichst, dich für alle Zukunft einem Gesetze zu unterwerfen, das für jeden seine Gültigkeit hat, selbst für jene Menschen, die in Gauahlgesheim geboren wurden. Und dies Gesetz, verstehe mich wohl, es gebietet mit zwingender Notwendigkeit, daß ein Vokal, dem zwei Konsonanten folgen, unter allen Umständen kurz ausgesprochen werde. Es heißt also nicht, wie du gelesen hast, Gahlia sondern Gallia. Nun nachdem du solches gehört hast, wirst du nie mehr im Leben in die Versuchung kommen, dich gleicherweise an dem heiligen Geiste einer erhabenen Sprache zu versündigen. Frisch dran jetzt und übersetze ins Deutsche, was du soeben lateinisch vorgetragen hast.« Wallenstein besann sich nicht länger und brüllte los: »Ganz Gahlien ...« Weiter kam er nicht. Ein ungeheures Gelächter erfüllte den Saal. Federhalter trommelten von selber auf den Tintenfässern, Lineale tanzten auf den Bänken, Absätze schlugen den Takt zu einer Indianermusik auf dem Stubenboden. Alles war in Bewegung, alles im Wirbeln mit Ausnahme von zwei Menschen, die sich wie Schulze und Müller gegenüberstanden im Kladderadatsch. Der große Wallenstein war der eine und sein Klassenführer der andere.

Lange freilich dauerte das bange Schweigen der beiden auch nicht, da fuhr der letztere los, und seine zornigen Worte kollerten kantig und scharf über seine Lippen: »Hat es je einen traurigern Beruf gegeben, als der des Lehrers ist? Bringt nicht der Steinhauer seine Steine klein, formt nicht der Grobschmied das Eisen, macht nicht der Wagner aus Krummholz den Radschuh? Einzig nur dem Lehrer ist es aufgespart, daß er keinen Erfolg von seiner Arbeit sehen darf. Was ist ein Sisyphus gegen unsereinen? O du Rindvieh im Quadrat, wie lange willst du das a im Worte Gallia ziehen? Etwa bis es zu einem Stricke wird, um dich dranzuhängen? Könnt' ich dich baumeln sehen wie das Feldhuhn an der Tasche des Jägers, meine Frau und Kinder wollt ich opfern und mich als Witwer mit dem Ovid in der Tasche durch das Leben schlagen, wenn ich nur deinem Anblick entfliehen könnte. Stammst du von einem Seiler ab, daß sich alles bei dir in die Länge ziehen muß?« Der Professor schwieg ganz erschöpft von einer solchen Expektoration klassischer Gedächtnisvorräte. Wallenstein selbst war wie ein Fernrohr in sich selber hineingesunken und saß zerschlagen wie die Tabakpflanze nach dem Hagelschlage still und traurig auf seinem Platz. Neben ihm aber war's derweilen lebendig geworden. Der Peter Eichhorn hatte angefangen, dem großen Übersetzer des großen Feldherrn mit den Absätzen die Waden zu bearbeiten. Auch stach er ihn unterm Tische mit dem Bleistift in die Schenkel. Kein Wunder, daß der Namensvetter des Friedländers endlich aufgeregt und zapplig wurde. Der Klassenführer aber nahm dies unruhige Wesen seines Schülers als eine Auflehnung gegen seine Worte hin und schickte den Interpreten des krummnasigen Römers vor die Tür.

Während Wallenstein extra muros lebte, hatte sich über ihn und seine Taten bereits die Satire hergemacht und ihn selber umgetauft. Als er in der Zehnuhrpause wieder vor seinen Mitschülern erschien, war er etikettiert und gestempelt. Er hieß von da ab nicht mehr Wallenstein, sondern nur noch der Gahlier, wie er sich auch mit Fußtritten und Faustschlägen gegen diesen Namen zu wehren suchte.

Von Mainz nach Gießen war ein weiter Weg, und Wallenstein durfte wohl hoffen, daß ihm sein Spitzname nicht nachfolgen würde auf die Universität, zumal da er jetzt in der Lage war, jede ihm angetane Schmach mit der scharfen Schneide des Schlägers zu rächen. Und doch, Wallenstein hätte leichter wie der Schmetterling seine äußeren Formen abwerfen können als seinen Spitznamen. Eines Tages war er wieder da, der unleidliche Gahlier. Von wem war der Name hereingetragen in die Kneipe der Alemannen? Wallenstein hatte mich in Verdacht, und es kam zu einer wüsten Szene zwischen uns beiden. Wenig fehlte, und ich wäre aus der Burschenschaft hinausgeflogen, ohne daß Wallenstein davon einen Vorteil gehabt hätte, denn der Name hing nun einmal an ihm, und er begleitete ihn sogar ins Philistertum hinüber.

War ich späterhin imstande, mir den blondlockigen Notar vorzustellen, ohne daß der Name Gahlier mir in den Sinn gekommen wäre? Es war unmöglich, ja der Name überdauerte sogar seinen Inhaber, wie sich sogleich zeigen soll.

Gehe ich da eines Tages zu Worms von der Martinskirche nach dem Obermarkte zu an dem Eisengitter eines Vorgärtchens entlang. Bei meiner Seele Seligkeit, ich dachte an nichts so wenig als an Gallien und all die Völker, die seine Grenzen einst bevölkerten, und doch mit einem Male standen Büffel, Auerochsen und römische Krieger wieder vor meiner Seele, und zwar beim Anblick eines kleinen Schildes, das die Aufschrift trug: Gustav Wallenstein, Großherzoglicher Notar. Der »Gahlier« mußt' ich denken, und ich hätte nichts anderes denken können, selbst nicht an Reue und Leid über meine Sünden, und wenn mir einer das Messer an die Kehle gesetzt hätte. Also lebt er noch, so folgerte ich aus dem Blechschild weiter, und da gerade in einem Fenstergewand des unteren Stockwerkes ein Dienstmädchen mit einem Putzlappen herumgeisterte, so faßte ich mir ein Herz und rief der Küchenfee entgegen: »Mein Fräulein, ist der Gahlier zu Hause?«

Ich weiß nicht, ob das ominöse Wort begriffen war oder nicht. Ich merkte nur, wie das Mädchen mich mit leeren Augen fragend ansah, und ich verbesserte meine Rede und fragte, ob der Herr Notar zu Hause sei, und erhielt als knappe Antwort das Wörtchen: »Nein!« »So ist er ausgegangen – verreist?« »Nein!« »Aber wo steckt er denn, Fräulein, wenn er nicht zu Hause, nicht in der Stadt und nicht in der Fremde ist?« »Im Grabloch,« sagte die ländliche Schöne und putzte gefühllos an einer Fensterscheibe weiter. »Im Grabloch!« Wie dieses Wort mich doch erschüttert hat! Im Nu stand ein Dutzend Menschen um mich herum, die alle einmal mit mir jung und fröhlich und jetzt tot waren."

Aus: Adam Karrillon, Erlebnisse eines Erdenbummlers. Ein Odenwälder Roman (Autobiographie), Kapitel 6, S. 34-37, Berlin 1923

Gustav Wallenstein

  • geb. 1854 in Gau-Algesheim
  • Schuljahr 1866/67 Eintritt in die Tertia des Großherzoglichen Gymnasiums zu Mainz
  • 11. August 1873: Abitur am Großherzoglichen Gymnasium zu Mainz, angestrebtes Berufsfach: Jura
  • Studium an der Großherzoglich Hessischen Ludwigs-Universität Giessen von WS 1873 - WS 1878
  • Dr. jur.,
  • Gerichtsassessor in Mainz
  • 14.10.1885 Notar zu Bechtheim
  • 20.10.1888 Notar zu Osthofen
  • 07.12.1898 Notar mit Amtssitz Worms
  • Wohnung: Worms, Martinsgasse 3

Quellen: Schulprogramm des Großherzoglichen Gymnasiums zu Mainz, 1866/67 und 1872/73 - Regierungsblatt 1885, Beilage 26, S. 196 - Regierungsblatt 1888, Beilage 28, S. 207 - Regierungsblatt 1898, Beilage 32, S. 278