1955 feiert die Stadt ihren 600. Geburtstag
Der (strittige) Sachverhalt
Dass ein Ort mehrmals zur Stadt erhoben wurde, ist für das Spätmittelalter nicht außergewöhnlich, stehen doch im Zentrum nicht die Interessen der Bewohner, sondern die der jeweiligen Landes- oder Territorialherren.
So lag es 1332 im machtpolitisch-militärischen Interesse des zum Provisor der Mainzer Kirche gewählten Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg Kaiser Ludwig den Bayer zu bitten, den Orten Algesheim und Eltville „die Freiheit von Frankfurt, das Recht der Ummauerung und (das Recht auf) einen Wochenmarkt“ zu verleihen. Dies geschah am 23. August 1332 in Nürnberg und ist durch Urkunden belegt ("locum Algensheim, situm proper Ingelnheim", Domkapitel Mainz Urk 1332 August 23 I).
In einem Sammelprivileg vom selben Tag werden die Rechte zu Gunsten von weiteren 30 Orten an Rhein, Main und Mosel bestätigt.
Die Stadterhebung von 1355 handelten Erzbischof Gerlach von Nassau, den die Luxemburger (Balduin, Karl IV.) im "Mainzer Schisma" (1346-1353) gegen Heinrich von Virneburg, einen Parteigänger von Ludwig dem Bayern, unterstützten, und Karl IV., ehemals Gegenkönig zu Ludwig den Bayern, aus.
Unklar, vielleicht aber erklärbar ist dagegen, warum Gau-Algesheim den 600. Jahrestag der Stadterhebung 1955 und nicht bereits 1332 beging.
Thesen
- Das neben der Urkunde, in der Balduin für Algesheim ein Befestigungsrecht erhielt, erlassene Nürnberger Sammelprivileg für Balduin von Luxemburg löste an keinem der genannten Orte eine städtische Entwicklung aus. In ihm ist vor allem eine Bestätigung des Herrschaftsgebietes von Balduin zu sehen, zumal die genannten Orte von dem "tauben Privileg" nichts erfahren haben dürften. Die Sammelprivilegien gehörten zur Balduin Politik des konsequenten Ausbaus des Territoriums; sie waren für den Landesherrn bestimmt, nicht für die Städte.
- Von wenigen Ausnahmen abgesehen werden Stadtjubiläen erst seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gefeiert.
- Eine städtische Erinnerungskultur entsteht vor allem als "Instrument der Selbstinszenierung und Selbstsymbolisierung des Bürgertums" (Müller), ist also eng mit dem Aufstieg des modernen Bürgertums im Zuge der Industrialisierung verknüpft.
- Für eine Feier des 600. Jahrestages der Stadterhebung von Gau-Algesheim im Jahre 1932 fehlte - ungeachtet der versammelten wirtschaftlichen und politischen Krisen in den letzten Jahren der Weimarer Republik - ein nennenswertes industriell-gewerblich geprägtes Bürgertum in einer Gemeinde, die noch überwiegend agrarisch strukturiert und dominiert war.
- Bereits ein Jahr oder einige Jahre später hätte der Nationalsozialismus, der anfangs in Gau-Algesheim nur wenig verwurzelt war, zum Motor und Transformator werden können, traditionelle bürgerliche Festelemente und -inhalte zu integrieren und das Stadtjubiläum als Ausdruck der "neuen Zeit" feiern zu wollen.
- Am 10./11. Februar und am 16.-18. Juli 1955 konnte - getragen von einem breiten Konsens, trotz der noch offenen schulpolitischen Wunden - die 600-Jahrfeier als Baustein und Bühne eines demokratischen und zugleich traditionsbewussten Gemeinwesens verstanden und in Szene gesetzt werden.
Norbert Diehl