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Was einem in Gau-Algesheim passieren kann

Laut Ortsschildern ist Gau-Algesheim eine Stadt, aber wenn Sie über ihre Lage nicht zweifellos orientiert sind, so brauchen Sie sich Ihrer geographischen Kenntnisse noch nicht zu schämen. Es liegt „driwwe im Hessische“; genau zwischen dem goldenen Mainz und dem wegen seiner weiblichen Schönheiten berühmten Bingen. Diese beiden Städte für die Fremden in nähere Fühlung zu bringen, hat der Rheinische Verkehrsverein neuerdings den linksrheinischen Rheinhöhenweg von Bingen bis Mainz verlängert.

Ob diese Strecke freilich sich besonderer Beliebtheit erfreuen wird, möchte ich bezweifeln; denn wo keine Wälder sind - und die sind hier nur sehr spärliche vorhanden - kann selbst der Verkehrsverein keine schattigen Wege schaffen. Sonnige Landstraßen und Feldwege, die nach Regen durch einen hervorragenden Schmutz sich auszeichnen, pflegen trotz einiger Aussichten den Wanderer kaum anzuziehen. Nun also dieses Weges zog ich gleichwohl; von Gonsenheim nach Heidesheim, wo er durch Kiefernwälder führt, ist er sogar ganz hübsch. Von hier war ich dann von Wackernheim nach Ober-Ingelheim dann an dem Bismarcksturm vorbei über die Höhe nach Gau-Algesheim gewandert.

Als ich arglos durch die Straßen dieser Stadt schlenderte, trat ein Herr auf mich zu, der sich als Bürgermeister der Stadt vorstellte und der mir allerdings in höflicher Form begreiflich machte, daß ich „hinreichend verdächtig“ sei, den Bestand des deutschen Reiches zu gefährden. Denn es sei ihm gemeldet worden, ich hätte mir auf der Höhe über Gau-Algesheim „Aufzeichnungen“ gemacht. Das konnte ich allerdings nicht leugnen. Ich sagte ihm, daß ich die Gewohnheit hätte, einen Rheinführer herauszugeben und zu dessen Vervollständigung das neue Stück des Rheinhöhenweges zum Zwecke der Beschreibung abgegangen sei. Mit dieser Aufklärung war der Herr vollkommen zufrieden; er bat die Belästigung zu entschuldigen, und nachdem ich ihn wegen der Vortrefflichkeit seines Meldedienstes beglückwünscht und er mir Aufschlüsse über die Fortsetzung des Weges mitgegeben hatte, trennten wir uns höchst friedlich.

Von Gau-Algesheim geht es weiter über zwei Landstraßen nach dem Laurenziberg. Die Sonne brannte; ich ging in Hemdsärmeln, geriet aber bei dem anhaltenden Steigen gleichwohl in Schweiß. Schon winkte der Ort, der Erfrischung versprach, in greifbarer Nähe, da höre ich hinter mir ein Keuchen und Hasten über die neubeschotterte Straße. Ein Mann in Uniform strebte offenbar, nur bedeutend intensiver als ich, dem gleichen Ziele zu. Ich hielt ihn für einen Gerichtsvollzieher; seine Eile ließ darauf schließen, daß er sich einer beweglichen Sache zu versichern hatte. Und in dieser letzten Annahme hatte ich mich allerdings nicht getäuscht. Nur war mir nicht in den Sinn gekommen, daß diese bewegliche Sache - ich selbst war. Der Mann war der Polizeidiener von Gau-Algesheim und hatte den strikten Auftrag, mich nolens volens auf die Bürgermeisterei zurückzubringen. Diese Sache ging mir denn doch über den Spaß. Das Hin und Her kostete mich zwei Stunden Marsches und ich war durchaus nicht gewillt, dieses Opfer zu bringen, nur weil irgend jemand auf die Idee verfallen war, ich hätte angeblich Befestigungen, von denen ich keine Spur gesehen hatte und deren Existenz mir jetzt noch rätselhaft sind, abgezeichnet.

Der Polizeidiener von Gau-Algesheim ist höflich, aber bestimmt, und er hätte gutwillig von seinem Opfer nicht gelassen, wer von uns beiden bei einem Handgemenge vermutlich auf dem Platz bleiben würde. Er war stämmig, für ihn sprach die größere Jugend, für mich die offenbare Erschöpfung meines schweißüberströmten Gegners. Ein Schießgewehr oder ein Säbel, der sticht, waren nicht vorhanden. Präliminarien hatten keinen Erfolg; gleich Thoas und der Iphigenie sprach ich vergebens viel um zu versagen, der andere hört' von allem nur das Nein. Dennoch hatte ich den Erfolg, daß wir zusammen bis zu dem nahen Laurenziberg gingen, um dort an den Bürgermeister zu telephonieren. Ich hatte Glück; ein paar Minuten später und die Telephondienststunden, die auf dem Lande den Fernsprecher zu einer häufig problematischen Einrichtung machen, wären zu Ende gewesen. Dann hätte die Gewalt entscheiden müssen.

Mit dem Bürgermeister war ich gleich wieder d'accord. Offenbar hatte die Stelle, die ihn auf mich aufmerksam gemacht hatte, auf den Braten, der ihr vielleicht schon eine Orden Pour le merite vorgaukelte, nicht so ohne weiteres verzichten wollen. Ich mußte mich legitimieren! Bei der Bureaukratie ist es üblich, daß, wenn sie etwas von einem Bürger wissen will, sie ihn einfach zu sich hin befiehlt, statt ihn aufzusuchen, und so war es auch in meinem Fall. Statt daß derjenige, der an meiner Legitimation ein Interesse hatte, mir nachgefahren wäre, wurde mir zugemutet, einen anderthalbstündigen Weg zu machen! Ich tutet also meinen Namen und was dazu gehört in das Telephon, was am jenseitigen Ende des Drahtes protokolliert wurde.

Dann wurde mir gestattet, mich dem Polizeidiener gegenüber zu legitimieren. Der machte freilich ein erstauntes Gesicht, als ich ihm eine mit gestempelter Photographie versehen, von dem Polizeipräsidenten meines Wohnortes unterschriebene Karte zeigte, in der den Polizeiorganen anbefohlen wurde, dem Inhaber möglichst entgegenzukommen! Nun schloß ich auch mit diesem Teil der Obrigkeit Frieden und statt mit Fäusten maßen wir uns mit den Weinschoppen. Ich hebe noch einmal hervor, daß die Personen, mit denen ich bei dem Erlebnis zusammenkamen, durchaus höflich und sachgemäß vorgegangen sind; es liegt nur an dem System, wenn solche Belästigungen vorkommen können. Es genügte nicht, daß ich eine ad oculos demonstrierte Aufklärung über meine Aufzeichnungen gab, die ihre völlig Harmlosigkeit bewiesen, ich mußte mich noch nachträglich legitimieren. Und wenn ich das nicht gekonnt hätte? „Drum, Wanderer, kommst du nach Gau-Algesheim, steck eine Legitimation dir ein, wie das Gesetz es befiehlt!“

Kölnische Volkszeitung 21. Mai 1913

Aus: Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, 1999, S. 92 f.