Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

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Eine Episode aus dem Revolutionsjahr 1848

von Rektor a.D. Georg Richtscheid (1931)

Die Mitteilungen stammen von einem Augenzeugen, dem vor einigen Jahren verstorbenen Herrn P. Fetzer, Sporkenheim, der damals ein Jüngling war.

Er erzählte, daß die Freiheitsbewegung in Gau-Algesheim besonders lebhaft gewesen und besonders für die Jugend, die sich mit regem Interesse beteiligte, eine schöne Zeit war. Jeden Sonntag sei in der Nachbarschaft irgend etwas los gewesen, wo es viel zu sehen und zu hören gab. In manchen Orten waren Bürgergarden entstanden, im Volksmund „Berjergard“ genannt. An die Spitze stellten sich angesehene Bürger, Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer usw. Auf dem Woog, der großen Wiese hinter dem Schloß, wurde ein Freiheitsfest abgehalten, bei dem eine österreichische Regimentskapelle, die Windischgrätzer Dragoner, in ihren schmucken Uniformen aufspielten. Ein bedeutender Führer der rheinhessischen Freischaren, wahrscheinlich der junge Rechtsanwalt Bamberger, sei von Mainz gekommen und habe dabei die Festrede gehalten. Es wurde weidlich auf Fürsten und Regierung geschimpft mit der Versicherung, daß endlich der Zeitpunkt gekommen sei, wo die Knechtschaft ein Ende nehmen müsse. Allenthalben wurde das Heckerlied von groß und klein gesungen, ein richtiger Schlager mit dem jedesmaligen Refrain: „Hecker, Struwe, Zitz und Blum, bringen alle Fürsten um“. Diese vier Männer, als wahre Volkshelden angesehen, sind die Führer des süddeutschen Volksaufstandes gewesen. Die Mannheimer Advokaten Hecker und Struwe, die Leiter der badischen Bewegung, Zitz der rheinhessischen und Blum der bayrisch-pfälzischen. Ihr Ziel war die Gründung eines deutschen Einheitsstaates in Form einer Republik, daß sich diesen Bestrebungen die Fürsten widersetzten, war selbstverständlich, denn sie hatten am meisten dabei zu verlieren. Heute, 83 Jahre später, sind jene Ideen zum Teil verwirklicht. Eine Republik haben wir, aber leider noch keinen deutschen Einheitsstaat

Die Gau-Algesheimer hatten das Heckerlied umgedichtet und örtliche Persönlichkeiten mit hineingezogen. Sie sangen: „Secker, Huber, Litz(ius) und Stumm, bringen alle Fürsten um“. Es waren dies besonders begeisterte Freischärler in unserer Gemeinde.

Der Freiheitstaumel der Gau-Algesheimer ging so weit, daß man selbst kleine Buben in Freischärlertracht gesteckt hatte. Mit weißen Hosen, blauer Bluse und einem großen Schlapphut auf dem Kopfe, stolzierten sie auf den Straßen umher. Auch viele ältere Leute, insbesondere die Führer der Ortsgruppen und andere freiheitsbegeisterte Bürger trugen alltäglich diese Kleidung. Von den Dächern wehte die Fahne Schwarz-Rot-Gold und auf dem Marktplatz war eine kleine Kanone aufgestellt, als Symbol des Volksaufstandes.

Die Bürgergarde von Gau-Algesheim stand unter dem Kommando des Hauptmanns M., eines der angesehensten Bürger des Städtchens. An einem schönen Herbsttage des Jahres 1848 wurde die Garde durch Hornsignale und Trommelschlag zusammengerufen, um eine wichtige Kundgebung entgegenzunehmen. Die getreue Schar war alsbald auf dem Marktplatz versammelt, ein buntbewegtes Leben herrschte daselbst. Man sah eine Mischung von schwarzen Schlapphüten, hellen Turnerhosen, blauen Kitteln, Jagdflinten, Sensen, Äxten und dicken Knüppeln. Die Garde wurde noch verstärkt durch Handwerksburschen, die zufällig hier durchkamen und die willkommene Gelegenheit freudig benutzten. Sie wurden brüderlich aufgenommen und reichlich bewirtet. Man verabreichte ihnen die übliche Kriegskost Schwarzbrot, Käse, Wein und Schnaps und gab jedem ein altes Gewehr in die Hand, obwohl sie ein ganzes Hemd nötiger gehabt hätten. Der Herr Hauptmann in voller Uniform mit dem Heckerhut auf dem Kopfe war der erste auf dem Platze, wie es sich geziemt. Ein langer Schleppsäbel baumelte an seiner Seite; selbstbewußt stand er da und besah sich das bunte Gemisch. Da stiegen ihm allerhand Zweifel auf beim Anblick dieser Gesellschaft und er überlegt, ob er nicht seinen Plan aufgeben sollte. Doch er faßte Mut und hielt eine begeisterte Ansprache. „Freiheitsbrüder!“ begann er. „Ich danke Euch für Euer zahlreiches Erscheinen, Ihr seid gerüstet zum Kampf gegen die Knechtschaft, seid berufen, heute Euren Mut zu zeigen. Ein Geheimnis habe ich die Ehre, Euch mitzuteilen. Es gilt, ein preußisches Pulverschiff zu erobern, das drüben auf dem Rhein vor Anker liegt. Dieses kostbare Kriegsgut will ich und meine Gard' dem preußischen Kartätschenprinzen abnehmen. Hoch, hoch die Republik!“ „Auf Brüder, greift zu Schwert und Strick, Denn Blut muß fließen, knüppelhageldick, Das Pulver trocken, schärft's Bajonett Und schmiert die Guillotine ein mit Prinzenfett.“

Mit diesem Vers eines Gedichtes, das ein freiheitlicher Gemütsmensch damals verfaßt hatte, war seine Rede zu Ende. Schreiend und johlend stimmte die kriegslustige Schar ein und lustig unter dem Gesang des Heckerliedes setzte sich der Zug, der dicke Hauptmann voran, in Bewegung gen Frei-Weinheim zu. Auch die Schuljugend war stark vertreten, unter anderen ein 13jähriger schiefgewachsener Junge, Lenhard V. Er hatte zu Hause ein altes Gewehr gefunden und marschierte stolz in der vordersten Reihe. Der Herr Hauptmann wollte die jugendlichen Elemente ausscheiden, mußte aber der johlenden Menge kleinmütig nachgeben und sie mitziehen Lassen. So näherte sich der Zug der Tapferen allmählich dem Rheinufer. Da lag die kostbare Ladung, von weitem sichtbar, und sie sollte nun von der tapferen Garde im Sturm genommen werden. Aber, o weh, gar manchem fiel dabei das Herz in den Hosenboden, und als gar der Herr Hauptmann den Sturmangriff befahl, da wurde die Sache doch unheimlich, denn vom Schiff kam etwas Unsichtbares aber deutlich Hörbares herübergeflogen, das einem nur so um die Ohren pfiff. Aha! Was war das? Baff, baff, die Schildwache, mit der man nicht gerechnet hatte, begann auf die Stürmer zu schießen. Wie vom Teufel besessen, stoben die Helden auseinander, ergriffen die Flucht und eilten der lieben Heimat zu, froh, wieder heil und gesund bei Muttern angekommen zu sein. ‘S Lenhardsche, das bei dem Rückzug nicht so recht mitkam, wurde von einem kräftigen Gardisten auf die Schulter genommen und aus dem Feuer getragen. Die Begeisterung war dahin, kleinlaut und beschämt kam man zu Hause an. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen; das heitere Vorkommnis wurde viel belacht.

Der Herr Hauptmann warf Degen und Heckerhut ab, er schwor, sich nicht mehr an der Freiheitsbewegung zu beteiligen und das war sein Glück, denn mancher Führer und Volksheld wurde strengstens bestraft. Viele suchten ihr Heil durch Flucht ins Ausland, um sich der Bestrafung zu entziehen. Auch der praktische Arzt Dr. Sprender zu Gau-Algesheim, der wochenlang versteckt gehalten wurde, floh nach Amerika, wo er sich eine neue Existenz gründete und nie mehr in sein Vaterland zurückkehrte. Robert Blum wurde zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen. Bamberger aus Mainz war auch zum Tode verurteilt worden; er floh nach Paris, wo er sich bis 1863 aufhielt. Erst da erfolgte die Amnestie. Er durfte wieder zurückkehren, entwickelte sich zu einem bedeutenden Parlamentarier, der jahrzehntelang den Kreis Bingen-Alzey im Reichstag vertrat.

Aus: Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, 1999, S. 71-73.