Carl-Brilmayer-Gesellschaft e. V.

Demokratie als Risiko

Dass in der Vergangenheit demokratisch-republikanisches Engagement und Aufbegehren gegen staatliche Allmachtsansprüche gefährlich waren, haben beispielsweise die Gau-Algesheimer Männer zu spüren bekommen, die 1933 ins Konzentrationslager Osthofen deportiert wurden, und während der NS-Diktatur die Mitglieder der Laurenziberger Familie Möbius mit Leid und Tod bezahlen müssen. Bereits 100 Jahre zuvor im Vormärz und während der Revolution von 1848/49 trieben die Erfahrungen mit Einschüchterung und Gewalt den Burschenschaftler und Lehrer Heinrich Hattemer (1809-1849), dessen Vorfahren aus unserer Stadt stammen, ins schweizer Exil und einen frühen Tod. 

Heinrich Hattemer (1809-1849)

Heinrich Hattemer (* 3. Juli 1809 in Mainz; † 11. November 1849 in Biel/Bienne) war ein Sprach- und Literaturwissenschaftler, der sich aktiv an der Revolution von 1848/49 in der Schweiz und in Baden beteiligte.

Heinrich Hattemer war der Sohn von Jakob Hattemer, der am 11. Dezember 1781 in Gau-Algesheim geboren wurde und 1814 in Mainz starb, und von Klara Josepha geb. Haas, die als Kind von Hattenheim im Rheingau nach Mainz gekommen war und 1836 starb. Während seines Studiums in Gießen (WS 1829/30 - SS 1832) wurde Hattemer 1830 Mitglied der Alten Gießener Burschenschaft Germania und kam deshalb ins „Alphabetische Verzeichnis derjenigen Personen, gegen welche nach den Acten der Centralbehörde bezüglich revolutionärer Umtriebe im Untersuchungswege eingeschritten worden ist." Nach dem Studium der Philologie in Gießen, der Landesuniversität des Großherzogtums Hessen-Darmstadt, bei Friedrich Gotthilf Osann und Friedrich Jakob Schmitthenner wurde Hattemer Hauslehrer, dann Professor an dem von Julius Friedrich Karl Dilthey geleiteten altsprachlichen Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt. "Des politischen und religiösen Freisinns verdächtigt" (Ludwig Tobler) begab er sich mit seinen Geschwistern Matthias und Therese 1836 nach dem Tod der Mutter in die Schweiz.

Die weiteren Lebensstationen: Professor des Deutschen und Lateinischen an der Kantonsschule in St. Gallen, 1842 -1848 Lehrer des Lateinischen am Progymnasium in Biel, 1848 Mitarbeit an einer Zeitung deutscher Flüchtlinge in der Schweiz, Verweisung für ein halbes Jahr aus dem Kanton Bern wegen Verletzung der schweizerischen Neutralität, Teilnahme am Kampf um die badische Republik als Stabssekretär in der Volkswehr von Johann Philipp Becker, der zwei Jahre nach Hattemer ebenfalls in die Schweiz übergesiedelt war. Nach dem Misslingen der badischen Revolution kehrte Hattemer nach Biel zurück, wo er 1849 starb.  

Heinrich Hattemer war verheiratet mit Lina Schröder. Ihre Kinder waren Henriette (1836 - 1917), verheiratet mit dem Schweizer Sprachwissenschaftler und Volkskundler Ludwig Tobler (1827 - 1895); dann Amalie (1841 - 1892) und Hermann Josef (1844 - 1932). Ein Kind, Thusnelda, war jung gestorben. In einem Brief an Hoffmann von Fallersleben vom 6. Oktober 1842 schreibt Heinrich Hattemer aus St. Gallen: "Meine Nachkommenschaft ist auf 4 Stück Mädchen angestiegen, doch ist mir die dritte diesen Sommer gestorben." (Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen, 3. Band, Hannover 1868, S. 341). Henriette Tobler-Hattemer und Ludwig Tobler gründeten 1873 in Zürich-Hottingen die private Mädchenschule "Im Morgenthal" in der Thalstraße 9, ab 1887 als Gemeindestraße 11 bezeichnet.

Die jüngste Tochter von Ludwig Tobler und Henriette Tobler-Hattemer war die Pianistin Mina Tobler (1880 - 1967), in den Jahren 1912 - 1919 eine Vertraute des Soziologen Max Weber. Mina Tobler wurde wie zahlreiche Angehörige des "Weber-Kreises", der Freunde von Max und Marianne Weber, auf dem Bergfriedhof in Heidelberg begraben. 

Werke

Hattemers wissenschaftliche Tätigkeit belegen seine Hauptwerke: 

  • Denkmahle des Mittelalters. St. Gallen's altteutsche Sprachschätze, 3 Bände, St. Gallen, Scheitlin, 1844–49; Nachdruck, 3 Bände, Graz, Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1970.
  • Ueber Ursprung, Bedeutung und Schreibung des Wortes Teutsch, Nebst einigen Beigaben, Seinem Freunde Joh. Ph. Becker in Biel gewidmet, Schaffhausen, Brodtmann, 1847.

 Seine politischen Überzeugungen dokumentiert die 1848 in Biel erschienene Schrift „Rede eines Teutschen Republikaners in der Fremde an seine Landsleute in der Heimath“

Literatur 

  • Dvorak, Helge: Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft. Band I Politiker, Teilband 2: F–H. Heidelberg 1999, S. 254–255.
  • Friedrichs, Heinz F.: Das „Schwarze Buch“ der Bundes-Zentralbehörde über revolutionäre Umtriebe 1838–42, in: Hessische Familienkunde, Band 1, Heft 2–3, Dezember 1948, S. 29–54.
  • Gau-Algesheim. Historisches Lesebuch, 1999, S. 74–79.
  • Hattemer, Heinrich im Historischen Lexikon der Schweiz
  • Ludwig Tobler: Hattemer, Heinrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 11, Duncker & Humblot, Leipzig 1880, S. 24 f.

Henriette Tobler geb. Hattemer (1836-1917)

Henriette "Netta" Hattemer (15.8.1836 - 26.11.1917), die Tochter von Heinrich Hattemer (1809 - 1849) und Lina Schröder, war verheiratet mit dem Schweizer Sprachwissenschaftler und Volkskundler Ludwig Tobler (1.7.1827 - 19.8.1895), der aus dem liberalen Pfarrhaus von Salomon Tobler in Hirzel über dem Zürichsee stammte.

Beide gründeten im Jahre 1873 in Hottingen am östlichen Ufer des Zürichsees die private Mädchenschule „Im Morgenthal“. Die Schule erschien im Zürcher Adressbuch als "Mädchenschule von Frau Professor Tobler-Hattemer". Das 1835 gebaute Haus in der Thalstraße 9, ab 1887 Gemeindestraße 11 steht unter Denkmalschutz und beherbergt heute "relimedia", ein gemeinsames Dienstleistungsangebot des Katholischen Mediendienstes und der Reformierten Medien.

Wie ihr Vater Heinrich Hattemer, der als Burschenschaftler in Gießen sowie als Lehrer in Darmstadt und in der Schweiz mit der Obrigkeit in Konflikt geraten war, hatte auch ihr Schwiegervater ähnliche Erfahrungen gemacht. 1840 musste Salomon Tobler die Pfarrstelle in Hirzel verlassen, weil er gegenüber seiner mehrheitlich konservativen Gemeinde die Ereignisse um den sog. Züriputsch kritisiert hatte.  

Im Verzeichnis der Einwohnerschaft Zürichs von 1882 finden sich alle Mitglieder der Familie Tobler-Hattemer, wohnhaft in Hottingen, Thalstraße 9:

  • Prof. Dr. Johann Ludwig Tobler (1827-1895), Professor der philosophischen Fakultät und ordinierter Theologe (Verbi Divini Minister) der evangelisch-reformierten Landeskirche,
  • Henriette Amalie Philippine Charlotte Therese Tobler geb. Hattemer (1836/38-1917)
  • sowie die Kinder Maria Rosa (*1875), Ludwig Heinrich  (*1877), Elisabetha (*1878) und Mina Bertha (*1880).

Mina Tobler (1880 - 1967)

Bild aus dem Jahre 1907 (Stadtarchiv Zürich)

Mina Tobler (* 24. Juni 1880 in Zürich; + 5. Januar 1967 in Heidelberg) war das vierte und jüngste Kind des Sprachwissenschafters Johann Ludwig Tobler und dessen Gattin Henriette geb. Hattemer. Das Ehepaar hatte 1873 in Zürich eine Privatschule gegründet und bis 1892 geleitet. Nach dem Verkauf des Instituts konnte Toblers Schwiegersohn Hans Ott die Schule 1912 zurückerwerben und mit Mina Toblers Schwester Elisabeth weiterführen. Sie selbst erhielt von 1901 bis 1905 an Konservatorien in Leipzig, Zürich und Brüssel eine Ausbildung als Pianistin und als Liedbegleiterin am Klavier.

Als ihr Bruder Ludwig Tobler (1877 - 1915) Assistenzarzt an der Universitäts-Kinderklinik in Heidelberg geworden war, zog sie ebenfalls dorthin und blieb in Heidelberg, auch nachdem ihr Bruder Direktor der Kgl. Kinderklinik in Breslau geworden war. Der Philosoph Emil Lask (1875 - 1915) machte die Pianistin und Klavierlehrerin Mina Tobler 1909 mit Max und Marianne Weber bekannt. Durch ihr sympathisches und gewinnendes Wesen gehörte Mina Tobler schon bald dem engsten Freundeskreis der Webers an. Ein Liebesverhältnis zwischen Mina Tobler und Max Weber bestand von 1912 - 1919, die Freundschaft zu Marianne Weber (+ 1954) und Else Jaffé-von Richthofen (+ 1973) überdauerte den Tod von Max Weber im Juni 1920.

Mina Tobler hat „Sechs Kleine Klavierstücke“ (Hug, Zürich/Leipzig, 1943): Am Sonntag Morgen, Choralblasen, Ländlicher Nachmittag, Regenschauer, Lied in der Dämmerung, Frohes Fest am Abend) und eine „Neue Schule des Klavierspiels“ (W. Müller, Heidelberg, 1963) hinterlassen.

Auf dem Bergfriedhof in Heidelberg hat Mina Tobler ihre letzte Ruhe gefunden. Das Grab vereinigt sie mit ihrem Bruder Prof. Dr. med. Ludwig Tobler (1877 - 1915), dessen Frau Bertha geb. Scholl (1883 - 1957) sowie deren Kinder, Dr. Achim Tobler (1908 - 1995) und Sibylle Evers geb. Tobler (1914 - 1996).